Lichtsturm IV. Mark Lanvall
trotzdem in die Anderswelt mitkommen. Da war sich Kristin so gut wie sicher. Denn das Schicksal hatte sie zur teilnahmslosen Mitläuferin gemacht. Um mehr zu sein, hatte sie wohl keine Kraft mehr.
Und dass sie in die andere Welt gehen würden, das stand für Kristin fest - trotz Viktorias sicher nett gemeinter Warnung: „Es gibt dort weder Shopping-Zentren noch freies WLAN, dafür zwei Meter große Monster und es wird an allen Ecken und Enden gekämpft. Eigentlich eine ziemlich beschissene Wahl.“
„Aber“, hatte Maus betont und seiner Freundin dabei einen strafenden Blick zugeworfen. „Ihr werdet dort immerhin nicht eingesperrt, nur weil ihr spitze Ohren habt. Alben, die älter sind als das Kolosseum von Rom, werden sich dort um euch kümmern. Und: In der Anderswelt gibt es viele Verwandelte, die Ähnliches mitgemacht haben wie ihr.“
„Es ist allein eure Entscheidung“, hatte Viktoria ergänzt. „Ich würde es jedenfalls machen, wenn ich eine Albin wäre.“
Gute Argumente, fand Kristin. Vor allem der Aspekt mit dem Nicht-Eingesperrt-Werden gefiel ihr. Außerdem war sie neugierig. Eine fremde Welt, von der Wissenschaft noch völlig unerforscht? War es nicht das, wofür sie vor langer Zeit Astrophysikerin geworden war? Was hatte sie also schon zu verlieren?
Im Moment allerdings sah es hier so gar nicht nach Abenteuer aus. Maus und Viktoria hatten sie in den Münchner Norden gebracht. Jetzt stapften sie mitten in der Nacht durch das finstere Dickicht der Isar-Auen, stolperten über Wurzeln, passierten stinkende Ecken, in denen sich Besoffene offenbar erleichtert hatten. Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit verkündete Maus plötzlich: „Wir sind da.“
„Wir sind ... wo?“, blaffte Kristin genervt zurück und zupfte sich den bescheuerten Turban zurecht, unter dem sie ihre Ohren wieder einmal versteckte. War sie vielleicht am Ende doch einem durchgeknallten Sektarier auf den Leim gegangen? Alben. Die Anderswelt. Wie angenehm wissenschaftlich war es dagegen, ein Mutant zu sein. Aber dann passierte etwas, das ihre Zweifel auf Schlag in Luft auflöste.
Vor ihnen an einer lichten Stelle brannte sich auf einmal ein grelles Kreuz in die Dunkelheit, als würden zwei unsichtbare Jedi-Ritter ihre Lichtschwerter kreuzen. Aus der Mitte löste sich gleich darauf eine weitere Linie aus brennendem Licht, bewegte sich stetig auf den Boden zu. Dort angekommen, teilte sich die Linie, driftete auseinander, öffnete sich zu einem bestimmt drei Meter hohen Lichtkreis, in dessen Innerem nun eine blutrote, undurchsichtige Nebelwolke waberte. Kristin hatte keine Ahnung, mit was zum Teufel sie es hier zu tun hatte. Nur in einem Punkt war sie sich sicher: Feuerwerk war das nicht.
Silke schrie neben ihr auf, als sich aus der Waberwolke eine Gestalt löste. Sie war plötzlich da. Einfach so. Ohne sich auch nur einen feuchten Dreck um die Gesetzmäßigkeiten der Physik zu scheren. Die Gestalt war ein Verwandelter. Ein Mann. Um die 30 vielleicht. Schlank, gut aussehend, hellgraue Augen. Sein Blick hatte etwas, das ihr gefiel. Irgendwas zwischen Gentleman und Haudegen. Er lächelte und strahlte dabei erfrischend viel Sicherheit aus. Kristin mochte ihn sofort.
„Hi. Ich bin Ben“, stellte er sich vor. „Habt ihr Lust auf eine richtig abgefahrene Reise?“
Silke stöhnte leise auf und Kristin befürchtete, dass sie gleich kollabieren würde.
Immerhin zwei, dachte Ben. Er wusste, wie schwer es Viktoria und Maus inzwischen hatten, Verwandelte zu finden. Solche, die noch nicht in „Untersuchungshaft“ saßen, auf Schritt und Tritt überwacht wurden oder bereit waren, ihr vermeintlich sicheres Versteck zu verlassen. Immerhin zwei. Wobei eine davon eher so aussah, als würde sie sich lieber unter einem Stein verkriechen, als mit ihm in die Anderswelt zu kommen. Aber dazu war es jetzt wohl zu spät.
„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, sagte er, um die zitternde, blasse Frau zu beruhigen. „Ein bisschen wie Achterbahn vielleicht.“ Es funktionierte nicht.
„Silke wird mitkommen“, sagte die andere Frau. „Sie hat Angst, aber sie kommt mit. Für sie ist alles besser, als alleine gelassen zu werden.“
Ben nickte. Er wusste, wie es sich anfühlte, von einem Tag auf den anderen kein Mensch mehr zu sein. Er hatte das alles selbst durchgemacht. Sein Glück war damals allerdings gewesen, dass er das Menschsein ohnehin reichlich sattgehabt hatte. Das machte einen Unterschied, denn mit der Verwandlung hatte sich sein Leben nicht wirklich verschlechtert. Im Gegenteil.
Bei Silke war das ganz offensichtlich anders. Natürlich. Wie so viele Verwandelte hatte sie als Mensch eine Existenz gehabt, eine Familie vielleicht, einen Job, Alltag, Sicherheit. All das lag jetzt in Trümmern. Nicht jeder kam damit klar. Ben hoffte inständig, dass es ihr in der Anderswelt besser gehen würde - immerhin ohne die ständige Angst festgenommen oder vermöbelt zu werden. Aber wie konnte er da sicher sein? Ein Hort des Friedens war die Anderswelt nämlich auch nicht gerade.
„Alles im grünen Bereich bei euch, Alter?“, fragte Maus.
„Jep. So grün, wie es eben sein kann. Mal den Umstand beiseitegelassen, dass es dort keine Computer und Burgertempel gibt, würde dir Galandwyn gefallen. Geysbin glaubt allerdings, dass uns Sardrowain nicht mehr lange in Ruhe lassen wird. Er hat den Osten der Anderswelt erobert und wird wohl gerade etwas übermütig. Vermutlich nervt ihn auch, dass er keinen direkten Draht mehr zu den Menschen hat.“
Ben sah in Maus‘ grinsendes Gesicht. Dass van den Berg, der zweitausend Jahre alte Druidenhäuptling, nicht mehr existierte, war immerhin etwas, das sie erreicht hatten. Ein Stachel im Fleisch des Despoten, wenn man so wollte. Klar, dass ihn das ärgerte.
„Wir müssen gehen“, sagte Ben und sah dabei die beiden Verwandelten auffordernd an. „Der Übergang darf nicht lange offenbleiben. So eindrucksvoll er als Lichtspektakel auch ist. Besser wir sind durch, bevor ihn jemand entdeckt. Das gilt übrigens für beide Welten.
Die Mutigere der beiden Verwandelten nickte, packte Silke an der Hand und trat neben Ben.
„Wir sehen uns“, sagte Maus. „Liebe Grüße an die anderen Kinder!“, fügte Viktoria hinzu. „Und feiert nicht zu viel!“
Ben winkte, dann wandte er sich dem Übergang zu. Augenblicke später waren er und die beiden Frauen darin verschwunden.
Auf der anderen Seite wurden sie auf direktem Weg in die Hölle gespuckt. Nichts, aber auch gar nichts hatte Ben darauf vorbereitet. Als Gintwain nur Minuten vorher den Übergang für ihn geöffnet hatte, war es hier noch so ruhig gewesen wie in der Kaffeeküche einer Seniorenresidenz. Etwa hundert Alben, darunter auch eine Gruppe Verwandelter, hatten im Licht der Dämmerung den Übergang gesichert, hatten sich hinter den schulterhohen Wällen positioniert, die vor ein paar Wochen hier aufgeschüttet worden waren. Oder auf einem der erhöhten Schießstände, die im Abstand von zwanzig Metern rund um den Übergang angelegt waren – mit Ausnahme der Südseite. Die musste nicht geschützt werden, weil das Dickicht aus meterdicken Bäumen und stacheligen Büschen hier undurchdringbar war. Aber verflucht! Was heißt hier schon sichern? Niemand hatte ernsthaft mit einem Angriff gerechnet. Sardrowains Truppen waren weit weg. Jedenfalls hatte das Ben geglaubt. Bis zu dem Moment, in dem sich Ben und seine beiden Begleiterinnen mitten in der Hölle materialisiert hatten. Bolzen flogen, schnitten sirrend durch die Luft, töteten. Männer und Frauen schrien, gingen verletzt zu Boden, zerbarsten zu Staub. Bens Wahrnehmung schaltete augenblicklich auf Zeitlupe, so wie sie es immer tat, wenn es gefährlich wurde. Und verdammt noch mal: Das hier war gefährlich! Ben sah, dass die Soldaten San‘tweynas gerade die Wälle überrannten, die Kriegerinnen und Krieger Galandwyns reihenweise mit Schwertern oder Speeren niedermachten. Und sie stürmten geradewegs auf den Übergang zu – auf ihn und die beiden Frauen. Wieder surrten Armbrustbolzen. Auch, wenn die meisten rennend abgefeuert wurden und deshalb schlecht gezielt waren: Ihre schiere Masse machte es nur zu einer Frage der Zeit, bis einer von ihnen treffen würde. Ben streckte die Arme aus und ließ die Kraft des Lichts aus seinem Körper fluten.
„Bleibt dicht hinter mir!“, rief er den beiden Frauen zu und erkannte im Augenwinkel, wie die Mutigere Silke packte und in seinen Windschatten zerrte. Ein flimmernder, durchsichtiger Schirm spannte sich vor Ben auf. Bolzen prallten dagegen, glitten davon ab, fuhren berstend in den Boden. Er spürte die Wucht