Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen. Stephan Waldscheidt
Person vorgestellt und nicht bloß als eine Marionette des Plots.
Übrigens: Als Faktor, der die Spannungsschraube weiter anzieht, wirken im Voraus offenkundige Fehlentscheidungen.
In dem Thriller »The Stone Monkey« (dt. »Das Gesicht des Drachen«, Blanvalet 2003) aus seiner Lincoln-Rhyme-Serie erzählt Jeffery Deaver von zwei illegalen chinesischen Immigranten in New York. Nachdem die Landung der Immigranten von der Einwanderungsbehörde gestört wurde, werden die beiden von ihrem Schlepper verfolgt. Sie suchen Schutz bei Verwandten in Queens. Einer der beiden, der vernünftige Chang, will, dass sie dort hingehen und zusammenbleiben. Der unvernünftige Wu aber will in Manhattan wohnen, wo der Schlepper ihn und seine Familie leichter finden kann. Obwohl Chang ihm das erklärt, bleibt Wu standfest. Obwohl der Leser keine Ahnung hat, was passieren wird, ahnt er das Unheil bereits. Die Folge: Suspense!
Schreibanregung: Lassen Sie die wichtigsten Charaktere Ihres Romans mehr wichtige Entscheidungen treffen. Sehen Sie sich die Szene an, an der Sie gerade arbeiten. Ist darin eine wichtige Entscheidung fällig? Nein? Fügen Sie eine ein. Sie erzeugen dadurch mehr Spannung und vertiefen zugleich den Charakter. Dafür lohnt sich der Mehraufwand.
Können Sie das in weiteren Szenen Ihres Romans ähnlich handhaben? In jeder davon?
Sie werden erstaunt sein, welche Wirkung Sie damit erzielen. Denn auch Ihnen werden mit jeder Entscheidung Ihres Helden neue Ideen für weitere, noch spannendere Szenen und Entscheidungen kommen. Garantiert. Probieren Sie es aus.
Das ganze Leben Verstellung? — Veränderungen im Roman zeigen, indem Sie sie nicht zeigen
Veränderungen im Roman und dort vor allem die Veränderungen, die ein Charakter durchmacht, lassen sich auch dadurch zeigen, dass sich nichts verändert. So kann der Protagonist an Tiefe gewinnen, indem er sich nach einem grausigen Ereignis eben nicht (sichtbar, merklich) verändert.
Doch nicht nur an den Charakteren sorgen solche Nicht-Veränderungen für eine besondere Tiefe im Text. Wie hier im Beispiel aus Jenny Erpenbecks beeindruckendem Roman »Aller Tage Abend« (Knaus 2012).
Die Tochter einer der Protagonistinnen ist, gerade erst vor ein paar Wochen zur Welt gekommen, in der Nacht zuvor gestorben. Erpenbeck schreibt:
Ihre Mutter schiebt jetzt die leere Schublade zu. Oben auf der Kommode liegt das Spielzeug mit den silbernen Glöckchen. Als sie es wegnimmt, klirren die Glöckchen. Gestern haben sie auch geklirrt, als die Tochter selbst noch eine Mutter war und mit ihrem Kind gespielt hat. Das Klirren hat in den vierundzwanzig Stunden, die seither vergangen sind, seinen Klang nicht verändert.
Wenn Sie sich überlegen, wie Sie Veränderungen zeigen, ob im Charakter oder außerhalb, sollten Sie sich auch diese wichtige Frage stellen: Wie objektiv sind die Veränderungen? Manches mag im Auge des Betrachters liegen und sagt dann wiederum einiges über den Betrachter aus. Sie werden immer wieder auf solche Fragen stoßen: Wer ist der Charakter wirklich? Was ist die Wahrheit? Je tiefer Sie diesen Fragen nachgehen, desto tiefer kann Ihr Roman werden.
Ein weiterer Ausschnitt aus Erpenbecks Roman:
Als sie ein Kind war, hatte ihr Vater manchmal im Dunkeln für sie Fratzen geschnitten, und, gerade weil sie ihn so sehr liebte, war sie niemals ganz sicher gewesen, dass ihr Vater dann noch immer ihr Vater war. Immer hatte sie es für möglich gehalten, dass er sich aus dem, den sie so gut kannte, jederzeit in etwas Tödliches verwandeln könnte, und das Tödliche sich in diesem Moment als sein Wesen erwies. Sein ganzes Leben konnte Verstellung sein, angesichts auch nur eines einzigen Momentes der Wahrheit.
Wie auch immer Sie letztlich Veränderungen darstellen, das Wichtigste bleibt: Stellen Sie sie dar. Zeigen Sie dem Leser, dass Ihre Charaktere und Ihre Geschichte sich entwickeln, im Fluss bleiben. Zu keinem Zeitpunkt darf der Leser Ihren Roman als etwas Starres, etwas Unveränderliches erleben. Sobald er dieses Gefühl hat, wird er aufhören, ein Leser zu sein, und zum Buchwegschmeißer werden.
Keine Veränderung, auf die Sie Wert legen.
Weg mit dem Verband, der Ruth die Brust abschnürt! — Die Wandlung des Protagonisten zeigen
Wie zeigen Sie, dass Ihr Protagonist oder Ihre Heldin sich innerlich gewandelt haben? Ein Thema, das ebenso wichtig wie schwierig darzustellen ist.
Spielt in Ihrem Roman die Entwicklung Ihres Protagonisten eine große Rolle, stellt Sie das vor die Herausforderung, eine Veränderung dieses Charakters zu zeigen. Nach dem klassischen Story-Aufbau in drei Akten* muss der Protagonist am Ende des zweiten Akts eine Wandlung durchmachen. Denn sein Ziel erreichen kann er nur als gewandelter, als veränderter Mensch.
Im Katalysator vor dem zweiten Plotpoint hat er ein letztes Mal versucht, als sein altes Selbst zum Ziel zu kommen – und ist gescheitert.
Aber der Protagonist hat eben den zweiten Akt nicht nur damit verbracht, gegen Hindernisse anzurennen. Sondern er hat auch Wissen und Gefühle gesammelt, die ihn nun in die Lage versetzen, sich zu wandeln.
Sprich: Im zweiten Akt geht es nicht nur um eine Eskalation der Geschehnisse. Diese betrifft vor allem die Handlung, den Plot. Auch der Charakter eskaliert im zweiten Akt – indem er wächst. Sein neues Wissen, sein Wachstum in seinem Inneren aber bringen ihn noch nicht entscheidend weiter.
Ohne den zweiten Akt durchlebt und durchlitten zu haben, wäre der Protagonist jedoch nicht einmal zu dieser notwendigen Wandlung fähig. Denken Sie beim zweiten Akt daran, eben nicht nur die Handlung voranzubringen, sondern auch, den Charakter mit allem für seine Veränderung Notwendigen auszustatten. Das kann ganz augenfällig sein, indem er etwa für den letzten Kampf wichtige Waffen einsammelt.
Wichtiger aber bleiben seine inneren »Waffen« in Form von Wissen, von Gefühlen, von Reife. Am Ende des zweiten Aktes ist Ihr Charakter noch der Alte – aber er ist endlich bereit, sich zu erneuern.
Ihre Heldin darf sich im Lauf des Romans gerne häufiger verändern. Gerade bei Romanen, die über längere Zeiträume spielen, ist das fast unvermeidlich. Ansonsten drohen beim Leser Langeweile oder Unglauben.
Aber dem Leser einfach zu erzählen, »So, Leute, Ruth hat sich jetzt innerlich total verändert, müsst ihr wissen, also, sie ist jetzt mutiger und hat mit ihrem alten Leben abgeschlossen«, so etwas ist erstens wenig elegant und zweitens, und das ist entscheidend, es wirkt auf den Leser nur behauptet. Leser wollen Beweise, sie wollen mit ihren eigenen Augen sehen, sie wollen erleben, dass eine Veränderung stattfindet. Dafür lesen sie.
Nehmen Sie diese Aufgabe sehr ernst. Den Leser von der Veränderung zu überzeugen, ist entscheidend, damit Ihnen der dritte Akt mit dem Höhepunkt gelingt – und damit Ihnen der Leser diesen Höhepunkt und das Ende Ihres Romans abkauft (und Ihr nächstes Buch).
Schließlich braucht es eine »neue« Heldin, um den Bösewicht zu schlagen und das Ziel zu erreichen. Wenn diese für den Leser aber weiterhin die »alte« Heldin ist, wird er Ihnen diesen finalen Triumph am Ende schlicht nicht glauben. Dann hat sich die Heldin für ihn nicht verändert und ist noch immer nicht in der Lage, diese letzte Großtat zu begehen. Die Auflösung erscheint ihm damit wie eine aus dem Hut gezauberte Gazelle (ja, man muss nicht immer Kaninchen aus dem Hut zaubern).
Das Ergebnis fällt schlecht aus: In so einem Fall endet der ganze Roman für den Leser auf einer falschen Note – und ist damit für ihn verdorben. Ob er einen zweiten Roman von Ihnen lesen wird, nach dieser Enttäuschung, ist mehr als fraglich.
Luca di Fulvio zeigt in seinem internationalen Bestseller »Der Junge, der Träume schenkte« (Bastei-Lübbe 2011) eine Veränderung seiner weiblichen Hauptfigur Ruth – und er tut das auf mehrfache Weise. Sie können sämtliche Varianten auch in Ihrem Roman wählen oder sich die herauspicken, die Ihnen als am besten geeignet erscheinen. Mein Tipp: Je deutlicher und konkreter Sie das tun, desto besser.
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