Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen. Stephan Waldscheidt

Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen - Stephan Waldscheidt


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die eher plot-orientiert schreiben, heißt das: Gehen auch Sie sorgfältig mit Ihrem Personal um, sprich: Behandeln Sie die Charaktere nicht wie Marionetten, sondern lassen Sie ihnen – innerhalb des Rahmens, den Sie mit dem Plot vorgeben – zumindest so viel Raum, dass sie glaubhaft und überzeugend agieren können.

      Behaupten Sie die für den Roman wichtigsten Eigenschaften ihres Personals nicht nur, sondern zeigen Sie sie: in Aktion, bildhaft und emotional.

      Dann vermeiden Sie, dass Ihre Heldin unlogisch oder unglaubhaft handelt oder sogar dumm auf den Leser wirkt. Mit dummen Charakteren identifiziert sich kein Leser, er fühlt auch kaum mit ihnen mit!

      Sie vermeiden so auch, dass der Leser irgendwann, trotz der Faszination, die der Plot auf ihn ausüben mag, die Geduld mit der Heldin (und dem Autor) verliert und das Buch weglegt oder, genauso schlimm, kein weiteres Buch von Ihnen mehr lesen wird.

      Was für einen Autor das ultimative Scheitern bedeutet.

      Die improvisierende Mörderin — Erfolgreich mit Erzählregeln brechen

      Eine der unverbrüchlichen Regeln des Romanhandwerks heißt: Im ersten Plotpoint am Ende des ersten von drei Akten verpflichtet sich der Held dem zentralen Problem des Romans. Kein Weg zurück. Die Entscheidung stößt den Helden in den zweiten Akt, ins Muskelfleisch des Romans.

      Joanna Hines hat in ihrem Roman »Improvising Carla« (Simon & Schuster 2001 / keine deutsche Ausgabe) mit dieser Regel gebrochen. Ihre Heldin Helen lernt im Urlaub auf einer griechischen Insel eine Frau kennen und freundet sich mit ihr an. Nach einer durchzechten Nacht gehen beide zusammen vom Apartment zweier Bekannter durch ein Waldstück zurück zu ihrem Hotel. Sie geraten in Streit, gehen aufeinander los.

      Filmriss Helen.

      Als sie wieder zu sich kommt, liegt Carla tot vor ihr, sie selbst hat einen Stein in der rechten Hand, der vor Blut und anderen unschönen Substanzen klebt. Helen ist, was Wunder, überzeugt, sie wäre die Mörderin, zumal niemand anderes in der Nähe war oder auch nur wissen konnte, dass die beiden Frauen um diese Zeit in dieser Gegend unterwegs sein würden. Voller Panik versucht Helen, Carlas Leiche verschwinden zu lassen. Helen kann sie aber nur ein paar Meter bis zu einer Straße schleppen – wo ein Lkw herangedröhnt kommt, bremsen muss und die Tote unter einer Ladung Steine vergräbt.

      In vergleichbaren Romanen wäre dieser Mord das auslösende Ereignis. In seiner Folge, im ersten Akt, würde die Heldin nun Informationen sammeln, die sie bald davon überzeugen, dass sie nicht die Mörderin sein kann. Die Entscheidung, ihre Unschuld zu beweisen, könnte der erste Plotpoint sein, die Suche nach dem wahren Mörder könnte im Midpoint beginnen.

      Joanna Hines geht es um etwas anderes. Ihr ist die psychologische Seite ihrer Heldin Helen wichtiger als die Auflösung des Mordes. Statt Helen vor der Justiz fliehen zu lassen (wie etwa im Filmklassiker »Auf der Flucht« mit Harrison Ford und Tommy Lee Jones), lässt Hines sie ungeschoren davonkommen. Helen kann glaubhaft vorbringen, sie wäre woanders gewesen. Der Fall wird eingestellt, Carlas Tod als Unfall deklariert.

      Der Großteil des Buchs widmet sich fortan Helen und ihrer Flucht vor ihren inneren Dämonen. Eine Flucht, die, wie sie bald erkennt, hoffnungslos ist. Während ihr Leben aufgrund ihrer Schuldgefühle immer unerträglicher wird, versucht sie, mehr über diese Urlaubsbekanntschaft herauszufinden, lernt ihre Familie und Freunde kennen.

      An Helens Überzeugung, dass sie die Mörderin ist, hat sich trotz all dem nichts geändert. Erst am Ende des zweiten Akts findet sie heraus, dass sie wahrscheinlich doch nicht die Täterin sein kann. Und erst jetzt beginnt das, was für gewöhnlich dem zweiten Akt vorbehalten wäre: Helen sucht den wahren Mörder.

      Was die Autorin hier tut, funktioniert – in diesem Roman. Auch wenn es nicht wirklich überzeugend funktioniert. Das ist aber weniger der mutigen und außergewöhnlichen Konstruktion zuzuschreiben, sondern eher dem Umstand, dass in einem Großteil des Romans wenig geschieht und vor allem die Spannung nur sehr, sehr vage spürbar ist. Präsent aber ist sie, denn als Leser hat man seine Zweifel an Helens Vermutung, wie ihr Mord an Carla abgelaufen ist.

      Für Sie heißt das zweierlei: Wagen Sie sich auch mal an weniger ausgetretene Konstruktionen. (Obwohl ich das für Ihr Erstlingswerk nicht unbedingt empfehlen würde.) Und wenn Sie das tun, sorgen Sie für Subspannung, will heißen: Verlassen Sie sich nicht ausschließlich auf die Überzeugungskraft Ihres zentralen Plots. Bauen Sie vielmehr Subplots ein, die in sich für Spannung sorgen, auch dann, wenn diese im zentralen Plot – der Konstruktion geschuldet – etwas in den Hintergrund tritt.

      Dem Leser ist es letztlich egal, woher die Spannung kommt. Hauptsache, sie kommt.

      Und: Selbst wenn Ihr Roman ein »psychologischer« sein sollte, so vergessen Sie dennoch die Handlung nicht!

      Hines’ Roman hätte eine Heldin mit einem interessanteren Innenleben gebraucht. Helen ist sehr durchschnittlich. Was dem Leser hilft, sich mit ihr zu identifizieren. Und eine Identifikation ist in diesem Roman zentral: Nur so können die Leser den Gedankengängen der Heldin folgen und auch ihre Ängste und Verdächtigungen nachvollziehen.

      Dann aber zwingt die Autorin den Leser dazu, sich sehr lange und sehr intensiv mit dem Innenleben der Heldin auseinanderzusetzen. Dafür ist es wiederum nicht aufregend und abwechslungsreich genug.

      Ein guter Roman ist ein fein austariertes Gebilde. Wenn Sie irgendwo von der klassischen »Formenlehre« der Romanstruktur oder der Charakterzeichnung abweichen, sollten Sie das an einer anderen Stelle ausbalancieren.

      In unserem Beispiel heißt das: Wenn Sie an einem Ende etwas überziehen – wie hier die Konzentration auf die Psychologie der Heldin Helen –, sollten Sie das an einem anderen Ende ausgleichen.

      Doch um dieses Austarieren überzeugend hinzubekommen, sollten Sie den »Idealzustand« – eben den klassisch strukturierten Roman und seine Anforderungen – kennen und zumindest einigermaßen beherrschen. Und dieses Beherrschen müssen Sie trainieren. Etwa indem Sie einen so strukturierten Roman schreiben.

      Die Regelbrüche? Die heben Sie sich für später auf. Dann gelingt Ihnen auch damit ein verdammt guter Roman.

      Was Apple, Google, Facebook und Amazon wirklich wollen — Konkrete Ziele im Roman

      Gut schreiben und erzählen zu können, hilft nicht nur beim Schreiben und Erzählen. Es macht auch manches im Leben besser erkennbar. Kurzum: Schreiben macht schlau.

      Ja, auch Sie.

      Das ist mir beim Lesen eines Artikels in der ZEIT aufgefallen.* In »Warum protestiert ihr nicht?« (DIE ZEIT Nr. 32, 2. August 2012) erklärt der Schriftsteller Benjamin Stein die sorglose Haltung gegenüber den dubiosen Arten, mit Daten seiner Kunden und mit den Kunden selbst umzugehen, die Weltmächte wie Facebook, Apple, Amazon und Google pflegen (die Daten, nicht unbedingt die Kunden).

      Erstaunlich ist, wieso das für die Journalisten Evelyn Finger und Thomas Fischermann, die in dem Interview die Fragen stellen, anscheinend vollkommen unklar ist. Vermutlich schreibt keiner von ihnen Romane. Stein sagt:

       Das konkrete Glücksgefühl im Netz erscheint ihnen größer als die imaginäre Gefahr. Den Nutzen können sie fassen, die Schranken sehen sie nicht.

      Sprich: Konkreter Nutzen in der Gegenwart schlägt abstrakte Gefahren in der Zukunft. Das ist genau wie beim Rauchen: »Ist vermutlich irgendwie ungesund, vielleicht aber auch nicht und vielleicht nicht für mich. Ganz sicher tun mir jetzt zwei Minuten Nikotin gut.« Nein, vermutlich ist das Diffuse noch diffuser oder wird komplett ausgeblendet.

      Übersetzt in die Sprache des Erzählens jedenfalls heißt das: Konkret schlägt abstrakt.

      Nehmen wir als Beispiel einen vollkommen fiktiven Internetkonzern namens Froopple als die böse Macht in einem Roman. Täte Froopple


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