Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen. Stephan Waldscheidt
als Erstes eine Idee für eine Story kommt. Irgendwo haben sie gelesen, dass man diese aus den Charakteren heraus entwickeln soll.
Dann gibt es die Charakterkreativen, die als Erstes ihre Heldin ganz klar vor sich sehen. Sie aber haben ein Problem damit, die gute Frau in eine Handlung zu verstricken, die halbwegs Sinn und Spannung ergibt.
Also denken sich die Plotbrüter ein paar Romanfiguren aus und die Charakterkreativen überlegen sich eine Geschichte – und beide enden sehr bald in einer Sackgasse, die Mauer am Gassenende ein unüberwindliches Hindernis.
Das Hindernis: Die Geschichte und die Charaktere wollen einfach nicht zusammenkommen. Stellen Sie sich das wie zwei Bauklötze vor. Die können Sie aufeinanderstapeln oder nebeneinanderlegen wie Sie wollen, aber eine Einheit schaffen Sie keine daraus.
Wo sollen Sie anfangen? Beim Charakter oder beim Plot?
Die Antwort wird Sie überraschen: Es ist (beinahe) egal, wo Sie anfangen.
Ganz egal ist es nicht. Sie sollten da ansetzen, von wo Sie die meiste Energie empfangen, dort, wo für Sie das Problem am aufregendsten knistert und wo sich Ihr Ideenquell besonders breit auftut.
Falls Ihnen eine aufregende Geschichte einfällt, fangen Sie bei der Geschichte an. Und dann denken Sie an das Bauklotzproblem.
Statt sich nun einfach Charaktere auszudenken, die Ihnen in den Sinn kommen, stellen Sie die Rollenfrage: Mit welchen Rollen muss ich die Geschichte füllen, damit sie besonders spannend, dramatisch, suspenseful und emotional wird? Achtung, wir reden hier von »Rollen«. Das sind zunächst nur Crash-Test-Dummies, ganz bewusst ohne Gesicht oder nähere Eigenschaften.
Erst wenn Sie die Rollen so festgelegt haben, dass sie Ihre Geschichte optimal tragen, hauchen Sie den Rollen Leben ein. Werten Sie sie zu Charakteren auf, zu Menschen aus Fleisch und Blut mit vielen Details und einer Geschichte. Diese Menschen passen sich perfekt in ihre Rolle ein – denn schließlich haben Sie sie so geschaffen. Sie gehen aber über diese Rolle hinaus. Denn dafür haben Sie mit einer Backstory und vielen spezifischen Details gesorgt.
Stellen Sie sich das so vor, als wären Sie ein Schneider. Ihre Aufgabe: das perfekte Kleid für eine, für irgendeine Königin zu schneidern. Viel Brokat und Samt und güldene Nähte, viel Stoff und Glitzer. Und dann passen Sie das Kleid einer bestimmten Königin an. Damit sie atmen, sich bewegen, lachen oder tanzen kann. Das Kleid bleibt äußerlich das gleiche. Erst seine Trägerin mit all ihren Eigenschaften macht es zu etwas Speziellem.
Falls Ihnen hingegen zunächst die Idee für eine interessante Heldin kommt, eine ganz ungewöhnliche Frau, deren Leben Sie näher beleuchten möchten, dann beginnen Sie bei ihr. Bauen Sie ihren Charakter auf. Fragen Sie die Frau nach ihren innersten Bedürfnissen, ihrem fatalen Fehler, ihrem größten Schmerz, danach, was sie antreibt. Und daraus entwickeln Sie Ihren Plot.
Fragen Sie sich, wie diese Frau zu einer durchgreifenden Veränderung getrieben werden kann, dazu, auf ihr Inneres zu hören, ihre Bedürfnisse zu entdecken und entsprechend zu handeln. Was würde eine solche Frau wie nichts anderes prüfen, sie zum Äußersten treiben, eben genug, damit eine Änderung notwendig, möglich und glaubhaft wird?
Dazu entwickeln Sie Stellen im Plot, von denen Sie noch nichts Konkretes wissen – außer ihrer Funktion und ihrer Wirkung auf Ihre Heldin.
Das könnte beispielsweise so aussehen: Im ersten Plotpoint am Ende des ersten Akts muss Ihre Heldin sich auf ihr endgültiges Romanziel festlegen. Dieses Ziel aber kennen Sie, schließlich haben Sie es aus den Bedürfnissen dieser Frau heraus entwickelt, sagen wir, die Selbstbehauptung als junge Muslimin in einer traditionellen Familie. Und dann müssen Sie nur noch eine Szene oder ein konkretes Ereignis entwickeln, wo sich die Heldin zum Erreichen eben dieses Ziels verpflichtet.
Stellen Sie sich jetzt vor, Sie wären ein Innenarchitekt. Sie wissen genau, welche Möbel in das Zimmer Ihres Plots hinein müssen. Aber wie die Möbel gestrichen und gruppiert werden und mit welchen Accessoires Sie diese ergänzen, das macht das Individuelle an Ihrer Geschichte aus.
Anscheinend haben die Drehbuchautoren oder der Regisseur von »Olympus has fallen« an einem dieser Punkte versagt: Es sieht aus, als hätten sie mit einer Story begonnen und daraus Rollen entwickelt. Ihr Fehler: Sie haben bei diesen Rollen aufgehört, anstatt daraus lebensechte Charaktere zu entwickeln, Menschen, die sich zwar an den Plot halten, aber dennoch wie echte Menschen agieren und reagieren.
Ein Mensch ist mehr als seine Rolle. Und wenn dieses Mehr fehlt, spüren das die Zuschauer oder die Leser. Mensch sein, heißt, in seiner Rolle Spielraum zu haben und diesen individuell mit Leben zu füllen.
Die betrogene Ehefrau ist eine Rolle. Aber es gibt unendlich viele Möglichkeiten, diese Rolle auszufüllen und sie zum Leben zu erwecken. Das ist eine der wichtigsten und spannendsten Aufgaben für Sie als Autor.
Autor zu sein, auch das ist eine Rolle – die eines Gottes, Gottvaters, die von Zeus persönlich. Wie Sie sie ausfüllen, zeigen Sie in Ihren Texten. Geben Sie sich Mühe damit. Sonst heißt es auch bei Ihnen irgendwann: Olympus has fallen.
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