Forschungsreisen in früheren Jahrhunderten - Band 124 in der maritimen gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. Jürgen Ruszkowski
Hinweis auf den triumphalen Einzug des Columbus in diese Stadt, bei Marco Polo keine Bemerkung über die chinesische Mauer und in den Archiven von Portugal nichts über die Reisen, die Amerigo Vespucci in portugiesischen Diensten ausführte.Wahrscheinlich erklären sich diese Auslassungen höchst einfach aus der Entstehungsgeschichte der ersten Niederschrift. Marco war kein Gelehrter, und Systematik lag ihm ganz und gar nicht. Wohl hatte er, wie wir wissen, bei seinem Diktat im Gefängnis einige Reisenotizen vor sich, aber gewiss kein lückenloses Tagebuch. Der Stil und die ganze Diktion des Werkes zeigen deutlich das gesprochene Wort: Er spricht von sich selbst gelegentlich in der ersten, meist aber in der dritten Person, erzählt manchmal nur in knappen Stichworten, dann wieder in behaglicher Breite, wiederholt sich und gebraucht anknüpfende rhetorische Wendungen. All das deutet hin auf ein lebendig und impulsiv vorgetragenes Diktat, bei dem wohl auch wichtige Einzelheiten einfach vergessen worden sind.Aber diese Einwände können seinen Ruhm nicht schmälern. Die erd- und völkerkundlichen Forschungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Arbeiten von Ferdinand von Richthofen und Sven Hedin, haben die überzeugenden Beweise erbracht, dass Marco Polos Angaben zur Länder- und Völkerkunde der Gebiete, die er durchreiste, überhaupt nahezu alles, was er selbst beobachtet hat, in erstaunlicher Weise den zum größten Teil erst im Verlauf der letzten hundert Jahre nachprüfbaren Tatsachen entsprechen. Er war wirklich der König unter den Reisenden des Mittelalters. Als erster hat er den größten Erdteil, Asien, in seiner ganzen Weite von West nach Ost durchquert und sorgsam beschrieben, was er dort sah: Die Wüsten Persiens, die blumenreichen Hochebenen und die wilden Gebirgsschluchten von Badakshan, märchenhafte Städte der Seidenstraße, die Steppenländer der Mongolei und den Hof des Groß-Khans. Als erster zieht er den Schleier von China, schildert das Gewimmel seiner Menschen, die riesenhaften Städte, das Leben auf den großen Flüssen, die Reichtümer aller Art, die hier gewonnen werden oder aus anderen Ländern zusammenströmen. Er bringt die erste verlässliche Kunde von Tibet und Burma, erweitert entscheidend die dürftige Kenntnis, die man zu seiner Zeit in Europa vom Malayischen Archipel, Ceylon und Vorderindien hatte. Auch von dem, was er nicht selbst sah, sammelt er Berichte, – wobei natürlich die Verlässlichkeit dieser Kapitel mitunter fragwürdig ist, – so von Japan, über dessen Existenz man zum ersten Male durch ihn etwas hörte, von Abessinien, Sansibar und Madagaskar, ja sogar von Sibirien und dem nördlichen Eismeer.Es bedarf nicht des etwas missglückten Vergleiches mit Columbus, wie ihn Ramusio anstellte, um Marco Polo zu den Großen unter den Weltreisenden aller Jahrhunderte zu zählen. Aber eine eigenartige Verbindung besteht doch zwischen dem Venezianer und dem Genuesen, der zweihundert Jahre später lebte. Als Columbus seine Idee der Westfahrt nach Asien entwickelte, war Marcos Buch im Druck nur in deutscher Sprache erschienen. Auch haben wir keinen überzeugenden Beweis dafür, dass Columbus selbst eines der Manuskripte gelesen hat. Aber mittelbar, vor allem durch die Briefe des Florentiners Toscanelli, ging vieles von Marco Polos Weltbild in die Pläne des Columbus ein. So besteht kein Zweifel, dass es vor allem Marcos Berichte von der zauberhaften Pracht und dem Reichtum der Länder Asiens waren, die dem jungen Columbus den entscheidenden Anstoß gaben. Dabei zeigt sich wieder eine seltsame Verkettung der historischen Ereignisse: Der Genuese wurde zu seiner Tat, die das Gesicht der Welt von Grund auf gewandelt hat, angespornt von einem Venezianer, der selbst kummervolle Jahre im Kerker von Genua zugebracht hatte. Die jahrhundertealte Feindschaft der beiden rivalisierenden Handelsrepubliken des Mittelmeers erscheint in dieser seltsamen Verbindung ihrer berühmtesten Söhne gleichsam aufgehoben und neuen Zielen zugewandt, von denen beide nichts ahnten. – Und eine weitere Ironie der Geschichte: Das unerschütterliche Vertrauen des Columbus, dass sein Plan einer Westfahrt von Europa nach Asien nicht nur theoretisch möglich, sondern auch bei dem damaligen Stand der Seefahrt praktisch ohne große Schwierigkeiten durchführbar sei, beruhte auf einem großen Irrtum. Mit Toscanelli glaubte er, dass der Seeweg von Westeuropa bis Ostasien nur ein Drittel des Erdumfanges betrage. Tatsächlich sind es jedoch zwei Drittel. Dieser Irrtum, der sich übrigens auch schon bei antiken Autoren findet, wurde für die Zeitgenossen des Columbus zweifellos erhärtet durch die Schilderung, die Marco Polo gegeben hat. Zwar enthält sein Buch keine genauen Entfernungsangaben. Aber allein die Tatsache, dass er über drei Jahre unterwegs war, die große Zahl der Länder, die er durchqueren musste, und schließlich die irrtümliche Angabe, dass Japan, das märchenhafte Zipangu, noch 1.500 Meilen von der Ostküste Asiens entfernt liege, schien diese Auffassung zu bestätigen. Hätte Columbus seinen Plan mit der gleichen Energie verfolgt, wäre es ihm gelungen, Ferdinand und Isabella von Spanien für sein Unternehmen zu gewinnen, wenn sie die wirkliche Länge des Weges gekannt hätten? Es gibt einen schicksalhaften Irrtum, der fruchtbarer ist als eine lähmende Wahrheit; er stößt den Weltfahrer in unbekannte Fernen, aber er führt ihn schließlich auch zu neuen Ufern.So steht die Gestalt Marco Polos auch hinter der Tat des Columbus, der einer der großen Verwandler der Menschheitsgeschichte wurde. Das war Marco nicht. Aber er hat uns etwas hinterlassen, was der Genuese und die anderen Großen des Zeitalters der Entdeckungen nicht geben konnten oder wollten, wohl auch nicht geben durften, weil die nun mit ungeheurer Wucht anbrechende Epoche der nationalen Machtkämpfe auf lange Zeit die Geheimhaltung aller neuen Entdeckungen forderte: sein Buch. Ein Buch, das auch heute noch erstaunlich modern wirkt, denn aus ihm spricht in einer Zeit der strengen Scholastik schon durchaus der weltoffene Geist des Humanismus. Wie auf einem bunten persischen Teppich sich Farben und Formen zu zeitlosen, aber seltsam erregenden Gebilden durchdringen, so lässt dies Buch die funkelnde Fülle des Lebens in seinen tausenderlei Gestaltungen aufleuchten und hat den Ruhm Marco Polos durch die Jahrhunderte lebendig erhalten bis auf unsere Tage.
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