Forschungsreisen in früheren Jahrhunderten - Band 124 in der maritimen gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. Jürgen Ruszkowski
und Muscheln stehlen wollen, durch die Furcht vor den raubgierigen Fischen abgehalten werden.An verschiedenen Punkten der Malabar-Küste lernt Marco Polo schließlich auch noch den Kulturkreis Indiens kennen. Wir wissen, er ist kein Gelehrter; tiefsinnige vergleichende Kulturbetrachtungen liegen ihm gar nicht, aber er erkennt doch, dass dies für ihn eine völlig neue Welt ist. Alles geht in seiner Erzählung bunt durcheinander: Es gibt da Fledermäuse so groß wie Geier, und Geier, die schwarz wie Raben sind. Er erzählt von Tempeln mit unglaublich vielen Göttern, männlichen und weiblichen, und von jungen Tempeltänzerinnen, die nackt – nur mit einem Tuch umgürtet – ihre Hymnen singen und tanzen. Er verschmäht es nicht, eine so nützliche Erfindung wie das Moskitonetz zu preisen; „solche Bequemlichkeiten genießen freilich nur Personen von Rang und Vermögen.“ Höchst merkwürdig findet er es, dass die Hindus den Ochsen wie einen Gott verehren und dass Witwen sich auf den Scheiterhaufen ihres verstorbenen Mannes stürzen, um mit ihm zu verbrennen. Und Sekten gibt es hier, deren Angehörige haben eigenartige Gewohnheiten: „Sie berauben keine Kreatur ihres Lebens, nicht einmal eine Fliege, einen Floh oder eine Laus; auch essen sie kein Tier, denn sie würden sonst Sünde begehen.“ Für den, der fast zwei Jahrzehnte lang in den ganz andersartigen Lebensformen Chinas zugebracht hat, ist das eine seltsam ferne Welt. Nicht alles, was Marco sieht, deutet er richtig, aber er sieht unglaublich viel und erzählt es munter und lebendig mit einem erstaunlichen Sinn für die Spannweite alles Menschlichen und ohne den Hochmut des Europäers, der später so viele Reisebeschreibungen schwer erträglich macht.Sechsundzwanzig Monate nach der Abfahrt von China langten die Polos mit ihrer Begleitung in der persischen Hafenstadt Hormos an, die ihnen schon von der Ausreise her bekannt war. Freilich erreichten keineswegs alle Mitreisenden das Ziel. Von der Schiffsbesatzung und den Passagieren fanden unterwegs rund sechshundert Personen den Tod, darunter zwei von den drei Gesandten, während von den Damen und Dienerinnen der Prinzessin nur eine gestorben war.Bei der Landung in Hormos erfuhren die Polos zu ihrer Bestürzung, dass der König Argon schon vor ihrer Abreise von China gestorben war. Für seinen noch sehr jungen Sohn führte der Bruder des verstorbenen Königs, Quiacatu, die Regentschaft. An diesen wandten sie sich und baten um Auskunft, was nun mit der Prinzessin Kogatin geschehen solle. Der Regent gab den Auftrag, die junge Dame dem Sohn Argons zuzuführen, der damals in der persischen Nordprovinz Khorassan unter der Vormundschaft eines Gouverneurs das Waffenhandwerk erlernte. So bekam Kogatin statt des alten Königs einen jungen Prinzen zum Gemahl. Marco vergisst nicht zu erwähnen, dass sie in Tränen ausbrach, als die Polos sich endgültig von ihr verabschiedeten, so innig hatte sie sich auf der langen Reise mit ihnen angefreundet.In der Residenz des Regenten Quiacatu, die wahrscheinlich in Täbris lag, ruhten sie sich neun Monate von den Strapazen der Seereise aus; dann machten sie sich endgültig auf den Heimweg. Unterwegs erreichte sie die Nachricht, dass Kublai Khan inzwischen gestorben war. Da wurde ihnen klar, dass sie die Heimfahrt gerade noch rechtzeitig angetreten hatten. „Endlich erreichten sie die Stadt Trapezunt, von wo sie nach Konstantinopel gingen, dann nach Negropont und zuletzt nach Venedig, an welchem Ort sie frisch und gesund im Jahre 1295 ankamen. Bei dieser Gelegenheit brachten sie Gott, der sie aus so viel Mühsalen und unzähligen Gefahren errettet und zum Ziele geführt hatte, ihren Dank dar.“* * *Im Kerker zu GenuaIm Kerker zu GenuaWir kennen die Szene, die sich bei der Heimkehr der Polos vor ihrem Palazzo in Venedig abspielte, und wir wissen, wie sie nach der Schilderung des Ramusio sich ihren Angehörigen und den maßgebenden Familien der Stadt bei einem prächtigen Festmahl zu erkennen gaben. Mag sein, dass der Erzähler diese Szene etwas im Stil einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht ausgeschmückt hat. Unwahrscheinlich ist sie keineswegs, denn sie passt vortrefflich zum Wesen dieses Mannes Marco, seiner Freude am bunten Getriebe des Lebens, den Kontrasten zwischen barbarischer Üppigkeit und bitterer Not, seiner Lust am Absonderlichen und Skurrilen.Vierundzwanzig Jahre waren die Polos fern von der Heimat gewesen, siebzehn davon in China, dreieinhalb auf der Ausreise und mehr als drei auf der Rückreise. Sie lebten nun in Venedig als reiche Kaufherren, berühmt wegen ihrer seltsamen Abenteuer und angesehen in Staat und Gesellschaft. Den beiden Alten, Nicolo und Maffeo, mag das genügt haben. Aber Marco war erst gut vierzig Jahre alt. Wie war ihm zumute, als der erste Jubel über die glückhafte Heimkehr vorüber war? Lernte auch er jenes seltsame Gefühlt kennen, unter dem fast alle Weltfahrer nach Vollendung ihrer großen Reise wie unter einer Berufskrankheit leiden: das Gefühl der Leere, des Unausgefülltseins, des Beiseitetretens, wenn sie sich nach Jahren aufregenden Erlebens wieder in die fest gefügten Lebensformen der Heimat einordnen sollen?