Forschungsreisen in früheren Jahrhunderten - Band 124 in der maritimen gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. Jürgen Ruszkowski
erste in dieser Herrscherreihe gewesen zu sein, dem die primitive Religion der Tataren nicht mehr genug war. Wahrscheinlich hielt er anfangs eine weitere Ausbreitung des Buddhismus in der tibetanischen Form für das geeignetste Mittel, um seine Völkerschaften stärker der Zivilisation zuzuführen. Später mag er dann auch ganz ehrlich zu der Überzeugung gekommen sein, dass diese Aufgabe ebenso gut oder besser vom Christentum durchgeführt werden könnte, denen Überlegenheit in vieler Beziehung er anerkannte. Seine Toleranz war nicht Gleichgültigkeit, aber sie entsprang wohl auch nicht einer tieferen religiösen Überzeugung. Sie war ein Stück seiner Politik.* * *Das Wunderland CathayDas Wunderland CathayMarco Polo kennt keinen einheitlichen geographischen oder politischen Begriff China, auch keinen zusammenfassenden Namen für die Chinesen. Wenn er den Namen Cathay gebraucht, so meint er damit das für ihn weitaus wichtigere Nordchina, während das Land südlich des Gelben Flusses Manzi genannt wurde. Wir wissen, dass Marco mindestens zweimal das riesige Reich durchquert hat. Die eine Reise führte ihn von der Hauptstadt Cambaluc – das ist das heutige Peking – tief ins Innere bis Szechuan, Jünnan, Tibet und Ober-Burma, die andere durch die Küstenprovinzen Nord- und Südchinas bis zum südchinesischen Meer. Dazu kommt eine nicht zu übersehende Zahl von kleineren Reisen in Cathay und Manzi, deren Verlauf im Einzelnen wir nur noch teilweise feststellen können. So konnte er sich mit Recht rühmen, besser als alle anderen hohen Beamten des Kaisers das wunderbare Reich der Mitte zu kennen, von dessen Existenz bisher nur ganz unklare Kunde bis nach Europa gedrungen war.Im Winter, von Dezember bis Februar, residiert der Groß-Khan in der Hauptstadt Cambaluc. Dort steht ein großer Palast; Marco nennt ihn eine Sehenswürdigkeit, wie es auf der Welt keine zweite gibt. Die Wände der großen Halle und der zahllosen Zimmer schmücken Drachen in vergoldetem Schnitzwerk, Figuren von Kriegern, Vögeln und allerlei Tieren sowie Darstellungen von Schlachten. Die Fensterscheiben sind durchsichtig wie Kristall.In der großen Halle, die für Gastmähler und Feste bestimmt ist, finden ohne Schwierigkeit sechstausend Personen Platz. Das hohe Dach leuchtet in den verschiedensten Farbtönen wie Zinnober und gelb, grün und blau. Die Falben sind mit einem kostbaren Lack aufgetragen; dadurch erhalten sie besondere Leuchtkraft und verleihen dem Palast, wenn man ihn von weitem sieht, einen schimmernden Glanz. – Der hintere Teil des Hauptpalastes umfasst große Gebäude mit vielen Zimmern, in denen der persönliche Besitz des Kaisers untergebracht ist. Hier liegen auch die Räume der Kaiserinnen und der Konkubinen sowie die privaten Gemächer des Herrschers, wo er in stiller Zurückgezogenheit, vor jeder Störung geschützt, seine Geschäfte erledigen kann.Zwischen der äußeren und der inneren Mauer, die den Palast umgeben, liegt ein Park, dessen Bäume köstliche Früchte tragen. In einem Tiergehege findet man weiße Hirsche und Damwild, Gazellen und Rehböcke, auch Eichhörnchen und Moschustiere. Die Wege sind gut gepflastert und etwas erhöht; so können sie niemals schmutzig werden, und das Regenwasser fließt sogleich von ihnen ab. – Nicht weit von dem Palast ist ein künstlicher Berg angelegt, gut hundert Schritte hoch und vollkommen mit Bäumen bepflanzt, die das ganze Jahr über grün bleiben und niemals ihre Blätter verlieren. Wenn der Kaiser erfährt, dass irgendwo ein besonders schöner oder seltener Baum wächst, lässt er ihn mit dem ganzen Wurzelballen ausgraben und durch seine Elefanten zu diesem Berg schaffen, der überall als der Grüne Berg bekannt ist, denn selbst der Erdboden ist noch mit grünem Mineralgestein bestreut, und oben auf dem Gipfelt steht ein zierlicher grüner Pavillon. Der Zusammenklang von Berg, Bäumen und Gebäude sowie die Abstimmung der Farben ist ganz wunderbar, sagt Marco, und jeder Beschauer ist entzückt.Die Residenzstadt Cambaluc ist die erste chinesische Großstadt, die Marco zu sehen bekommt. Kostbare Waren und seltene Dinge, überhaupt alles, was gut und teuer ist, findet man in keiner Stadt der Welt häufiger und besser als hier. Sie macht einen gewaltigen Eindruck auf ihn, und er wird nicht müde, sie aufs Genaueste zu schildern.Die Innenstadt ist ein vollkommenes Viereck von sechs Meilen Seitenlänge. Sie ist mit Erdwällen umgeben, die unten zehn Schritte breit und ebenso hoch sind. Breite Straßen durchziehen sie schnurgerade, so dass man trotz der großen Entfernung von einem Ende bis zum anderen sehen kann. Alle Grundstücke sind rechteckig und von hübschen Seitenstraßen begrenzt. Die Zahl der Häuser und erst recht die der Einwohner – erklärt Marco – ist so gewaltig, dass man es einfach nicht für möglich hält. Es gibt zwölf Stadttore, und vor jedem liegt eine besondere Vorstadt. Sie sind so ausgedehnt, dass in ihnen zusammen mehr Menschen leben als in der eigentlichen Innenstadt. In den Vorstädten befinden sich auch viele schöne Gasthöfe. Besucher aus dem Ausland müssen in dem jeweils für ihr Land bestimmten Gasthaus Wohnung nehmen; so ist der Fremdenpolizei die Arbeit sehr erleichtert.Von allen Merkwürdigkeiten, die Marco in Cathay zu sehen bekommt, beschäftigt ihn am meisten das Papiergeld, das dort schon seit Jahrhunderten in Gebrauch war. Der Groß-Khan ist wahrhaft im Besitz des Steines der Weisen, meint er, da er die Kunst versteht, auf solche Weise Geld zu machen.