Auferstehung. Лев Толстой
bemerkte, daß die Maslowa mehrmals aufblickte, als könne sie ihre Blicke von einer in Samt und Seide gekleideten, auffallend herausgeputzten dicken Frau nicht abwenden, die in einem hohen Hut mit großer Schleife, mit einem eleganten Ridicule an dem bis an den Ellenbogen entblößten Arme, in der ersten Reihe vor der Barriere saß. Es war dies, wie er später erfuhr, eine Zeugin: die Wirtin des Hauses, in dem die Maslowa gelebt hatte.
Das Zeugenverhör begann: Name, Konfession usw. Nachdem die einzelnen Zeugen befragt worden waren, ob sie ihre Aussage unter Eid oder unvereidigt machen wollten, kam wieder, schwerfällig daherschreitend, jener alte Priester in den Saal, rückte, wie vorher, das goldene Kreuz auf seinem seidenen Gewande zurecht und nahm mit der gleichen Ruhe und Zuversicht die Vereidigung der Zeugen vor. Als die Vereidigung beendet war, wurden alle Zeugen hinausgeführt, bis auf die Kitajewa, die Wirtin des Hauses, in dem Katjuscha gelebt hatte. Man befragte sie, was sie in dieser Angelegenheit wisse; die Kitajewa erzählte mit affektiertem Lächeln und deutschem Akzent ausführlich und zusammenhängend, was sie wußte, wobei ihr Kopf jeden Augenblick in dem riesigen Hut untertauchte.
Zunächst war bei ihr, erzählte sie, der Korridorkellner Simon vorgefahren, um für einen reichen sibirischen Kaufmann ein Mädchen zu holen. Sie schickte die Ljubascha mit. Nach einiger Zeit kam Ljubascha nach Hause und brachte den Kaufmann mit. »Der Kaufmann war schon im Trans,« sagte die Kitajewa lächelnd – »und er trank dann bei uns weiter und traktierte die Mädchen; als ihm aber das Geld ausgegangen war, schickte er diese selbige Ljubascha, für die er nu mal ein Faible hatte, in sein Hotelzimmer,« sagte sie mit einem Blick auf die Angeklagte.
Es schien Nechljudow, als habe die Maslowa bei diesen Worten gelächelt, und er fand dieses Lächeln widerwärtig. Ein seltsames, unbestimmtes Gefühl des Abscheus und des Mitleids zugleich regte sich in ihm.
»Und welche Meinung hatten Sie von der Maslowa?« fragte errötend und zaghaft der Gerichtsamtskandidat, der vonseiten des Gerichts der Maslowa zum Verteidiger gestellt war.
»Die allerbeste Meinung,« antwortete die Kitajewa – »ein gebildetes Mädchen, und ein adrettes Mädchen. Sie ist in 'ner guten Familie erzogen, und sie kann Französisch lesen. Sie hat wohl mal bißchen viel getrunken, aber sie hat sich nie vergessen. Wirklich ein sehr gutes Mädchen.«
Katjuscha sah die Wirtin an, dann aber wandte sie plötzlich ihre Augen auf die Geschworenen und ließ sie auf Nechljudow ruhen, wobei ihr Gesicht einen ernsten und sogar strengen Ausdruck annahm. Eins ihrer strengen Augen schielte. Eine ganze Weile waren diese beiden seltsam blickenden Augen auf Nechljudow gerichtet, und trotz des Schreckens, der ihn ergriff, vermochte auch er seinen Blick von diesen schielenden Augen mit dem grellen Weiß nicht abzuwenden. Er gedachte jener furchtbaren Nacht mit dem brechenden Eis, und dem Nebel, und der umgekehrten Sichel des abnehmenden Mondes, der vor Anbruch des Morgens aufging und etwas Schwarzes, Schreckliches beleuchtete. Diese beiden schwarzen Augen, die ihn anschauten und doch wieder an ihm vorüberschauten, erinnerten ihn an jenes Schwarze und Schreckliche.
»Sie hat mich erkannt!« dachte er. Und Nechljudow bückte sich förmlich, als wenn er einen Schlag erwartete. Doch sie hatte ihn nicht erkannt. Sie seufzte leise und sah wieder auf den Vorsitzenden. Auch Nechljudow seufzte auf. »Ach, wenn's doch schon vorüber wäre!« dachte er. Er hatte jetzt ein Gefühl, ähnlich jenem, das er auf der Jagd empfand, wenn er einen verwundeten Vogel vollends töten mußte: Ekel, Mitleid und Ärger empfindet man zugleich. Der angeschossene Vogel zappelt in der Jagdtasche: abscheulich ist's, und zugleich peinlich – man möchte ihn so rasch wie möglich abtun und vergessen.
Dieses gemischte Gefühl hatte Nechljudow auch jetzt, als er dem Zeugenverhör beiwohnte.
20
Wie ihm zum Trotz aber zog die Verhandlung sich mehr und mehr hin: nachdem das Verhör der Zeugen und des Sachverständigen beendet war, und nachdem der Staatsanwaltsgehilfe und die Verteidiger, wie üblich, mit wichtiger Miene ihre überflüssigen Fragen gestellt hatten, schlug der Vorsitzende den Geschworenen vor, die Beweisstücke in Augenschein zu nehmen, die in einem mächtigen Fingerring mit einer Rosette von Brillanten und dem Filter, auf dem das Gift untersucht worden war, bestanden. Diese Gegenstände waren versiegelt und mit Etiketten versehen.
Die Geschworenen schickten sich bereits an, diese Gegenstände zu besichtigen, als der Staatsanwaltsgehilfe sich abermals erhob und das Verlangen stellte, daß vor der Besichtigung der Beweisstücke das Protokoll über die medizinalamtliche Untersuchung des Leichnams verlesen würde.
Der Vorsitzende, der die Verhandlung möglichst zu beschleunigen suchte, damit er noch rechtzeitig zu seiner Schweizerin käme, durfte gleichwohl den Antrag nicht zurückweisen, obschon er sehr gut wußte, daß die Verlesung des Protokolls nur Langeweile erzeugen und das Mittagessen hinausschieben könne, und daß der Staatsanwaltsgehilfe die Verlesung nur deshalb verlangte, weil er wußte, daß er ein Recht hatte, sie zu verlangen. Der Sekretär holte daher das betreffende Aktenstück heraus und begann mit seiner schnarrenden, das l und r seltsam schleifenden Stimme zu lesen:
»Bei der äußeren Besichtigung des Leichnams hatte sich folgendes ergeben:
1. Der Therapont Smjelkow hatte eine Größe von 2 Arschin 12 Zoll.«
»War das ein langer Kerl!« flüsterte der Kaufmann Nechljudow mit nachdenklicher Miene ins Ohr.
»2. Sein Alter war, nach dem Aussehen zu urteilen, auf etwa 40 Jahre anzunehmen.
3. Der Leichnam sah aufgedunsen aus.
4. Die Farbe der Haut war grünlich, da und dort traten dunkle Flecke hervor.
5. An der Oberfläche des Leichnams hatten sich Blasen von verschiedener Größe gebildet, stellenweise war die Haut abgelöst und hing in großen Fetzen herab.
6. Das Haar war dunkelbraun, dicht, und stand bei einer Berührung leicht von der Haut ab.
7. Die Augen waren aus den Höhlen getreten, und die Hornhaut war getrübt.
8. Aus den Nasenlöchern, den beiden Ohren und der Mundhöhle trat eine wässerig-blutige, schaumbildende Flüssigkeit heraus, der Mund war halb geöffnet.
9. Der Hals war infolge der Aufblähung des Gesichts und der Brust fast gar nicht sichtbar.
10. usw. usw.«
Auf vier Seiten war so in 27 Punkten das Ergebnis der äußeren Besichtigung der Leiche festgelegt – ein grausiges Bild des riesigen, dicken, schon ganz in Verwesung übergegangenen Körpers jenes flotten Sibiriers, der in der Stadt sein Amüsement gesucht hatte. Das Gefühl des Ekels, das Nechljudow ohnedies schon empfunden hatte, verstärkte sich noch bei der Verlesung dieses Protokolls. Das Leben Katjuschas, das aus den Nasenlöchern fließende Blut, die aus ihren Höhlen getretenen Augen, sein eigenes Betragen gegen Katjuscha – alles dies schien ihm von gleicher Widerwärtigkeit, und widerwärtig war überhaupt alles, was ihn rings umgab. Als endlich die Verlesung des Protokolls über die äußere Besichtigung der Leiche beendet war, stieß der Vorsitzende einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und hob in der Hoffnung, daß nun alles vorüber sei, den Kopf empor. Doch der Sekretär begann sogleich mit der Verlesung des Protokolls über die innere Untersuchung.
Der Vorsitzende ließ den Kopf wieder sinken, stützte ihn mit der Hand und schloß die Augen. Der Kaufmann, der neben Nechljudow saß, konnte sich kaum des Schlafes erwehren und schwankte zuweilen hin und her; die Angeklagten saßen ebenso wie die Gendarmen hinter ihnen unbeweglich da.
Die Untersuchung der inneren Teile hatte ergeben,
1. daß die häutigen Schädelhüllen sich leicht von den Schädelknochen lösten, und daß nirgends blutunterlaufene Stellen zu konstatieren waren;
2. die Schädelknochen von mittlerer Stärke und unversehrt waren;
3. auf der harten Hirnhaut zwei kleine pigmentierte Stellen in der Größe von etwa vier Zoll vorhanden waren, die Hirnhaut selbst eine bläßlich-matte Farbe zeigte usw., usw. – noch fernere 13 Punkte.
Weiterhin folgten die Namen der bei der Leichenschau anwesenden Zeugen sowie deren Unterschriften