BeOne. Martha Kindermann

BeOne - Martha Kindermann


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wissen in welches Minenfeld er aufbrechen wird und von Tam fehlt weiterhin jede Spur. Ich hatte seit Wochen keinen Kontakt zu meinen Eltern und vermisse sie ganz schrecklich. Egal wie ich es drehe und wende, diese Mission ist ein Himmelfahrtskommando und ich werde ohne Widerworte mitmachen. Moreno hat uns vielleicht manipuliert, aber Rafaels Motivationsansprache kommt diesem Effekt ebenfalls beängstigend nah. Warum bin ich nur so verdammt ruhig?

      »Heute Abend werden keine Karten mehr gewälzt, keine Überwachungsbänder ausgewertet und keine Motorräder poliert! Genießt die letzten freien Stunden und lasst uns gemeinsam feiern. Die Welt in der wir leben mag auseinanderbrechen, aber nicht heute Abend und nicht hier in dieser wunderbaren Gemeinschaft, für die ich unendlich dankbar bin. Mögen die Sterne für uns leuchten und die Dunkelheit vertreiben. Be Polar!«

      »Be Polar!«, rufe ich aus vollem Hals und lasse mich von seiner prophetischen Art mitreißen. Selbstmitleid und Angst haben mich in den letzten Wochen, Monaten, vielleicht sogar Jahren gebremst, aber dieses Feuer hat mich entfacht und ich werde den Weg ins Unbekannte wagen. Absolut bescheuert, ich weiß!

      »Elvis, Lio, Iso? Holt die Klampfen raus. Wir brauchen Musik!« Und dann nimmt er einen kräftigen Schluck Bier und kommt geradewegs auf mich zu, während die Runde sich auflockert und in johlende Lagerfeuerstimmung verfällt.

      »Darf ich mich setzen?« Fenja springt auf, bietet Rafael ihren Platz an und zieht Tristan auf die Beine.

      »Komm Taniboy, wir holen mal neue Getränke?«

      »Taniboy?«, entfährt es mir und Tristan wirft mir einen genervten Blick zu.

      »Frag deinen Bruder.« Und schon sind die beiden verschwunden und überlassen mich meinem Schicksal.

      Eine Weile lauschen wir der Musik, dem Klang von Elvis rauchiger Stimme und dem zackigen Beat, den Iso auf seiner geschundenen Gitarre vorgibt. Ich stiere wie hypnotisiert in die Flammen des prasselnden Feuers und wage es nicht, Rafael eine Frage zu stellen. Wir beide sind so wunderbare Vertraute geworden, nachdem er wieder in mein Leben getreten war und nun könnte die unausgesprochene Kluft zwischen uns kaum größer sein. Ich will glauben, dass alles ein Missverständnis ist, das Rafael eine Rolle spielen musste und in Wahrheit immer noch mein großartiger und tapferer großer Bruder ist, aber es ist verdammt schwer.

      »Los, Roya! Löcher mich, verurteile mich, schlag mich meinetwegen, aber sag bitte etwas. Ich möchte dich morgen nicht gehen lassen, wenn es so zwischen uns ist.«

      »So?«, frage ich.

      »Ja, so. Du kannst mir ja kaum in die Augen schauen. Und wenn du es doch tust, dann sehe ich nichts als Verachtung und Angst. Was habe ich falsch gemacht, was dich so wahnsinnig verletzt hat?« Wenn ich es doch nur in Worte fassen könnte. Alles. Nichts. Ich weiß es nicht.

      »Ehrlich gesagt bin ich mittlerweile nicht mehr sicher, ob du überhaupt etwas falsch gemacht hast.«

      »Ach so? Das sieht aber ganz anders aus.« Er lacht und ext sein Bier.

      »Du warst der Schatten auf den Überwachungsbildern, der Taranee befreit und Tristan verführt hat. Du warst der BePolarist mit den unzähligen Gesichtern und einer Beziehung zu Josi, die mit Caris Tod in Verbindung stand. Du warst der Typ, der unseren Eltern vor Jahren das Herz brach und schließlich der Bruder, der seine Schwestern nicht beschützen konnte.« Und du hast mich zurückgelassen. Ich schlucke und suche die entschuldigenden Worte in den tanzenden Flammen.

      »Moreno hat dich als Sündenbock für all diese Taten hingestellt und ich habe ihm geglaubt. Ich habe dem psychopathischen Herzensbrecher mehr vertraut als meinem eigenen Bruder, weil dein Berg an Geheimnissen einfach zu groß und zu unüberwindbar für mich ist und ich fühle mich schrecklich. Ich weiß nicht, ob eine Geburtsurkunde oder ein DNA-Test die Lösung gewesen wären, aber ich habe dich zu unrecht verurteilt und mit dir Tristan und eure gemeinsame Sache. Nun möchte ich gern wieder deine Schwester sein und hoffe, du…«

      »Komm her, Kleine!« Und dann zieht er mich so ruckartig in seine Arme, dass meine Tasse samt Inhalt zu Boden geht und die Roths ihr Scherbenkonto erneut füllen. Wir kichern gemeinsam über das entstandene Glück und halten uns aneinander fest.

      »Du darfst mich weiterhin Kleine nennen, wenn du mir die Taniboy Geschichte erzählst, Deal?« Ich werde von seinem kernigen Lachen erschüttert und er zerzaust mir liebvoll die Haare.

      »Dein Freund ist einfach so herrlich zu reizen, ich konnte nicht widerstehen.«

      »Dann hast du ihm diesen hirnrissigen Namen nur verpasst, um ihn zu ärgern?« Ich boxe ihn und stemme dann belustigt die Hände in den Schoß. »Du Arsch!«, sage ich mit einem breiten Grinsen auf den Lippen.

      »Sieh ihn dir an, deinen Tristan.« Nur zu gern denn es macht mich glücklich ihn mit Fenja lachen zu sehen und in Freiheit zu wissen. Er musste in seinem jungen Leben schon so viel Leid erfahren, dass er es mehr als verdient hat in den Wächtern ein neues zu Hause zu finden. Hoffentlich bleibt auch für mich noch ein Platz in seiner neuen Welt. Immerhin weiß er noch nichts von meinen neusten Verfehlungen.

      »Vor ein paar Wochen war er der verängstigte, bockige Taniboy, der nur wegrennen wollte, um auf eigene Faust seine Jugendliebe zu retten und nun –«, er stockt und legt mir beschützend einen Arm um die Schulter, »geht er morgen auf gefährliche Mission und vertraut mir, als dem Anführer sein und natürlich dein Leben an. Ich glaube, er ist rausgewachsen aus dem Taniboy und bereit ein Tristan zu sein, was meinst du?« Eine rethorische Frage, die ich nur mit einem schiefen Mundwinkel beantworte ohne den Blick von Tristan abzuwenden.

      »Bring ihn mir bitte wieder zurück, Rafael!« Er zieht mich näher an sich und ich lasse ihn dankbar gewähren.

      »Ich kann dir nichts versprechen.«

      »Ich weiß«, bringe ich mit gebrochener Stimme hervor, »aber du kannst ihn vor selbstlosen Spontanaktionen bewahren, wenn es um mich geht und ihn ausreichend beschäftigen, damit er nicht auf dumme Ideen kommt.« Eine dicke heiße Träne rinnt mir die staubige Wange hinab und landet auf dem löchrigen grauen Pullover, den mir Fenja aus dem Lager geholt hat.

      Die Aussichten sind alles andere als rosig, wenn ich an den morgigen Aufbruch denke und ich kann mich wohl nicht länger hinter meinen Gefühlen verstecken. Die Boliden, Slys Anfall, Tams Verschwinden, die Versöhnung mit Rafael, Tristans neue Aufgaben hier – es bricht über mir zusammen und dabei habe ich meine Rolle in dieser Mission noch gar nicht berücksichtigt.

      »Er gehört jetzt zur Familie, in jeder Hinsicht und ich beschütze meine Familie – immer! Rheas Tod ist noch nicht aufgeklärt, aber das Gefühl, das Entin, das feige Schwein etwas damit zu tun hat, lässt mich nicht los. Ich habe sie nicht beschützen können, weil sie nicht beschützt werden wollte. Ich hätte es ignorieren müssen und ihre Pläne vereiteln, aber sie ließ mich im Dunkeln tappen, genau wie alle anderen und es hätte mehr als nur ein paar Handschellen gebraucht um deine Schwester von ihrer Theorie abzubringen. An Sturköpfen mangelt es nicht in der rothschen Dynastie.« Wir schmunzeln und Rafael legt meinen Kopf an seine Schulter.

      »Roya, mach nicht denselben Fehler wie Rhea. Wenn du einen Verdacht hast, dann sprich mit uns, lass dir helfen und verbanne das Wort Alleingang aus deinem üppigen Wortschatz, verstanden?« Ich nicke und greife nach seiner starken Hand.

      »Wir finden ihren Mörder, wir finden die Morenos, ihren kranken Plan und Tam.« Ein Schreck fährt mir durch die Glieder, doch Rafael scheint nicht sonderlich überrascht. »Ich bin nicht blind, Roya. Dein großes Herz schlägt für beide Brüder, aber sei vorsichtig. Rhea ist für Tam schon einmal ein viel zu großes Risiko eingegangen. Irgendetwas versteckt dieser Junge vor uns und ich bin nicht sicher, ob wir es schon herausfinden sollten.«

      Ich kann nicht aufhören zu weinen – still und heimlich durchnässe ich meine Kleidung und hoffe, dass das Feuer sie trocknet, bevor Tristan und Fenja zurückkommen. Ist es so offensichtlich? Kann ein Herz überhaupt für zwei Menschen gleichzeitig schlagen? Die Antwort kenne ich, auch wenn sie mir nicht gefällt: Es kann, aber es wird daran zerbrechen. Ich muss eine Entscheidung treffen, die ich schon längst getroffen habe. Sie wird einen Teil meines


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