Mauern der Macht. Ralf Häcker

Mauern der Macht - Ralf Häcker


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diese in ihrer Tasche verschwinden. Darauf lief sie den Anderen nach und verkündete, dass sich Gott sei Dank niemand mehr im Herstellungsraum befände.

      Schon kurz darauf traf die werkseigene Feuerwehr am vermeintlichen Brandort ein und meldete die eingeschlagene Scheibe an die Firmenleitung weiter. Diese ließ aus Disziplinierungsgründen die komplette Belegschaft an diesem Tag länger arbeiten. Die fehlende Tube fiel niemandem auf. Tatjana fühlte sich trotz der durch sie verhängten Kollektivstrafe erleichtert.

      Ein Fehler, – sollte doch der weitaus unangenehmere Teil an diesem Abend noch folgen. Als sie zu Hause ankam, legte sie die Tube in ein Regal und ließ sich auf ihr Sofa fallen. Mit einer Mischung aus Zufriedenheit über die gelungene Aktion und Unbehagen darüber, es überhaupt getan zu haben, hielt sie ihr Diebesgut noch lange mit Blicken fest. Sie war müde geworden, hatte ein beißendes Hungergefühl, wollte mit dem Essen aber warten, bis sie ihre beiden Erpresser wieder aus der Wohnung hatte.

      Nach gut einer halben Stunde, es war längst dunkel geworden, erschienen die Beiden wieder. Alles lief ab wie beim ersten Mal. Beide gingen an ihr achtlos vorbei, ohne eine Aufforderung zum Eintreten abzuwarten. Wieder führte der Kleine das Wort, die Aufgabe des Großen bestand darin, Dominanz zu zeigen. Tatjana hatte Angst vor ihm. Er sagte nichts, schaute sie nur durchbohrend an. „Die Ware“, forderte der Kleine und streckte dabei seine Hand nach ihr aus. Tatjana nahm die Tube von der Ablage und übergab sie ihm.

      „Sie wollen mich beleidigen?“ fragte er in vorwurfsvollem Ton. Tatjana verstand nicht. Sie hatte doch genau das getan, was man von ihr gefordert hatte. „Wissen Sie Frau Dr. Smirnow, wenn ich Ihnen sage, Sie sollen mir diese neu entwickelte Lotion besorgen, dann meine ich nicht eine Tube davon. Sie enttäuschen mich sehr. Ich dachte, wir hätten es mit einer intelligenten, zielstrebigen, jungen Frau zu tun, stattdessen sehe ich hier jemanden vor mir, der glaubt, sich mit uns anlegen zu müssen.“

      Tatjana rang nach Luft. „Ich wusste nicht, dass Sie mehr davon haben wollen. Es wäre aber auch gar nicht möglich gewesen, eine größere Menge unauffällig aus der Firma zu bringen. Es gibt keine Stelle am Band, zu der ich unbemerkt Zugang habe. Ich kann Ihnen nicht mehr beschaffen, es ist schlicht und einfach unmöglich. Bitte glauben Sie mir.“

      Der Kleine fauchte sie an. „Was hier möglich ist und was nicht, sage ich Ihnen! Sie sind stellvertretende Abteilungsleiterin, also nutzen Sie Ihre Position und schieben Sie den Diebstahl einfach auf eine Kollegin. Jedenfalls setzen Sie genau das um, was ich Ihnen sage. Sie könnten meine Freundschaft sonst sehr leicht überstrapazieren. Wissen Sie, ich müsste sonst meinem Kollegen hier ein Zeichen geben und ich kann Ihnen sagen, er wartet nur darauf.“

      Der Große öffnete ruckartig eine Glastüre am Wohnzimmerschrank und schaute Tatjana dabei hämisch an. Nur ganz langsam nahm er den Blick von ihr und wandte sich einem alten Kaffeeservice zu. Er nahm eine Tasse an sich und ging damit auf Tatjana zu. Nur an seinem Zeigefinger hängend, ließ er das wertvolle Stück vor ihren Augen hin und her baumeln. Zitternd kam sie seiner unausgesprochenen Aufforderung nach. „Das mit der größeren Lieferung geht in Ordnung, ich werde mein bestes tun, aber bitte lassen Sie mir etwas Zeit.“

      „Schön, dass wir uns verstanden haben. Sie scheinen doch lernfähiger zu sein, als ich dachte. Aber wie viel Zeit Sie dazu brauchen, entscheiden wir. Wir kommen übermorgen Abend wieder, dann übergeben Sie uns einen vollen Karton. Ich denke, Sie haben verstanden. Schlafen Sie gut, so wie Sie aussehen, könnten Sie ein paar Stunden gebrauchen.“ meinte der Kleine.

      Dann verließen beide die Wohnung. Tatjana setzte sich, schaute auf die Erbstücke im Schrank und begann zu weinen. Sie saß einfach nur da, umschlang ihre angewinkelten Knie und lehnte ihren Kopf darauf. Sie fühlte sich als der einsamste Mensch der Welt und hatte immense Angst.

      An diesem Abend dachte sie nicht mehr darüber nach, wie an eine größere Menge zu kommen wäre, sondern legte sich einfach nur auf ihr Bett und weinte. Irgendwann später, von der Müdigkeit überwältigt, schlief sie dann endlich ein.

      Schon am frühen Morgen, kurz nach dem Aufstehen, begann sie darüber zu grübeln, wie sie ohne dabei erwischt zu werden, an die größere Menge Lotion kommen könnte. Dass sie selbst keine Möglichkeit dazu hatte, war ihr klar. Es klang ihr aber noch in den Ohren, sie solle den Diebstahl einfach einer Kollegin anlasten. Da sie sich selbst in größter Not sah, begann sie ernsthaft darüber nachzudenken. Bei dem Gedanken, so etwas zu tun, wurde ihr beinahe schlecht. Sie fühlte sich mies, noch ehe sie irgendetwas getan hatte, denn alle ihre Mitarbeiterinnen waren von ihrem Job abhängig.

      Die Möglichkeit offiziell um die Ware zu bitten, schloss sie aus. Ein neues Produkt, welches noch der Geheimhaltung unterlag, war für einfache Mitarbeiter nicht zu bekommen.

      Um das Bandende zu beobachten, hielt sich Tatjana an diesem Tag sehr lange dort auf. Wenn man einen ganzen Karton unbemerkt an sich nehmen wollte, schien das, wenn überhaupt, nur dort möglich zu sein. Drei Mitarbeiter waren unmittelbar daran beschäftigt. Igor, 62 Jahr alt, unverheiratet und seit seinem 15. Lebensjahr in der Firma beschäftigt, Sonja, 28 Jahre, alleinerziehend und Mira, 41 Jahre, verheiratet mit einem arbeitslosen und gewalttätigen Trinker. Diese Drei falteten die Kartonagen, befüllten diese mit jeweils 20 Tuben, verklebten die Kartons und stapelten diese auf dafür bereitgestellten Paletten. Danach wurden diese als Ganzes versperrt, so dass ab dort kein Zugriff mehr möglich war.

      Tatjana musste also eine dieser drei Personen als Verbündete gewinnen. Gedanklich unterzog sie alle Drei einer Eignungsprüfung. Aber selbst wenn einer der Kollegen mit ihr zusammengearbeitet hätte, wäre sie ab diesem Tag von dieser Person erpressbar gewesen. Deshalb machte sie noch am gleichen Nachmittag von einer Möglichkeit Gebrauch, die sie selbst anwiderte.

      Gegen 15:00 Uhr bestellte sie Mira zu sich ins Büro. Sie entschied sich für Mira, da sie diese Mitarbeiterin für das schwächste Glied in der Dreierkette hielt. Zudem wusste Tatjana, dass Mira Angst vor ihrem Mann hatte. Schon mehrfach hatte er sie geschlagen und misshandelt. Sollte sie ihren Arbeitsplatz verlieren, wäre sie auch untertags häuslicher Gewalt ausgesetzt.

      Tatjana bot ihr einen Stuhl gegenüber dem ihren an. „Hören Sie Mira, ich habe Sie zu mir bestellt, weil ich mit Ihnen über die Situation in unserer Firma sprechen möchte. Wie Sie wissen, wird hier bei uns das Leistungsprinzip nicht nur proklamiert, sondern auch gelebt. Das heißt, Mitarbeiter über die Lobenswertes berichtet wird, kommen durchaus in den Genuss von außertariflichen Kulanzleistungen. Anders verhält es sich, wenn Verfehlungen an die Firmenleitung gemeldet werden. In solchen Fällen wird sich die Firma umgehend vom entsprechenden Mitarbeiter trennen. Nun, es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis Ihr unübersehbares Leistungsdefizit ans Licht kam. Sie werden verstehen Mira, dass wir uns mit sofortiger Wirkung von Ihnen trennen müssen.“

      Mira war sichtlich um Fassung bemüht. Völlig verängstigt und hilflos beteuerte sie, sich nichts zu Schulden habe kommen lassen. Sie versicherte Tatjana, dass es wegen ihr noch nie zu einem Bandstau gekommen sei und auch niemals einer ihrer Kollegen ihre Arbeit habe übernehmen müssen. Auch sei sie nie krank gewesen und war der Firma gegenüber stets loyal. Nie hätte sie auch nur ein negatives Wort über ihren Arbeitsplatz verloren. Sie flehte Tatjana an, ihre Entscheidung nochmals zu überdenken. „Bitte geben Sie mir noch eine Chance, Sie werden sehen, ich werde Sie nicht enttäuschen.“

      Innerlich das Herz zerreißend blieb Tatjana äußerlich kalt. „Wissen Sie Mira, dass Sie Ihrer Arbeit nicht im geforderten Maße nachkommen, ist eine Sache, dass Sie aber versuchen durch Bettelei Ihren Arbeitsplatz zu sichern, ist mehr als erbärmlich. Hätten Sie auch nur einen Hauch an besserer Zusammenarbeit signalisiert, wäre ich unter Umständen bereit gewesen, Gnade vor Recht walten zu lassen.“

      Mira begann zu weinen. Sie erzählte von ihrem zu Hause und von ihrem prügelnden Mann. Käme sie ohne Job heim, bezöge sie umgehend Schläge, so wie er es schon des Öfteren getan hatte.

      Tatjana ging zu ihr hinüber und legte tröstend den Arm um sie. „Glauben Sie mir, Mira, ich habe keine andere Wahl. Ich muss so handeln, obwohl es mir schwer fällt. Natürlich wissen wir beide, dass mein Vorwurf gegen Sie gelogen ist, aber eben nur wir beide. Wenn mein Wort gegen Ihres steht, wird Ihnen niemand glauben.“

      Mira


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