Die Dämonen. Roland Enders
Grün. Die Oberfläche wirkte glatt wie ein Spiegel. Vorsichtig kroch sie zum Rand. Das Leuchten ging von Myriaden winziger, lebender Punkte aus, die sich zittrig durcheinander bewegten. Inmitten der kleinen leuchtenden Tierchen entdeckte sie große, längliche Schatten, die mit trägen Flossenschlägen den See durchpflügten – manche von ihnen größer als ein Mensch. Hier gab es also Nahrung und Wasser, und sie würde bleiben und sich ausruhen können, bis ihre Wunde verheilt war.
Sie hatte lange Zeit geschlafen und erwachte nun, weil sie Hunger und Durst hatte. Den löschte sie zuerst, indem sie ihre Zunge wie einen Löffel in die grüne Brühe tauchte und eine Lache am Uferrand mitsamt dem was in ihm lebte, aufschleckte. Ihre weiten Pupillen leuchteten grüngelb. Die Netzhäute ihrer Nachtaugen reflektierten das Licht des Sees.
Fressen. Es schwamm nicht weit vor ihr. Große, fette Fische. Aber sie scheute das Wasser, und die Beute schien unerreichbar fern. Sie watete ein kleines Stück hinein in den seichten Bereich am Ufer, verharrte jedoch unschlüssig, als ihr Bauchfell nass wurde. Schon wollte sie wieder umkehren, da bemerkte sie, dass sich ein riesiger dunkler Schatten unter dem Wasserspiegel näherte.
Der Herr des Sees war uralt. Seine schuppige Haut zeigte zahlreiche Narben von den Kämpfen längst vergangener Jahre, als er noch jung gewesen war. Heute kannte er keine natürlichen Feinde mehr. Die anderen Fische, auch die stärksten, machten einen großen Bogen um ihn. Dennoch war er schnell genug, um sich unter ihnen seine Opfer zu suchen. Mit kleinen Beutefischen gab er sich nicht mehr ab. Und dank der Auslese, die er unter den Raubfischen traf, konnte sich die Bestände der Schwarmfische, die sich vom Plankton ernährten, und der kleinen Räuber und Aasfresser immer wieder erholen. Er stand an der Spitze der Nahrungskette, regulierte die Zahl der großen Räuber und sorgte damit dafür, dass der See reich an Leben war.
Er hatte Hunger. Seine Schwanzflosse bewegte das Wasser so sachte, dass er nur langsam dahinglitt. Aber so würde sein Opfer nicht bemerken, dass er sich näherte. Bis zum letzten Augenblick wollte er warten, dann nach vorne schnellen. Allerdings hatte er heute noch keine lohnende Beute gefunden. Er wusste aus Erfahrung, dass sich viele der größeren Fische ins flache Uferwasser zurückzogen, in der Hoffnung, er würde ihnen nicht dahin folgen. Er steuerte gerade die Untiefe an, als er zwei Lichtpunkte einige Körperlängen vor sich entdeckte. Neugierig schwamm er näher. Die Lichtpunkte wuchsen zu kleinen, leuchtenden Scheiben, die über dem Wasserspiegel schwebten. Diese Lichter zogen ihn magisch an. Sein Instinkt sagte ihm, dass es sich um Beute handelte. Nicht zum ersten Mal jagte er außerhalb des Wassers. Er hatte schon das eine und andere ahnungslose Landtier in die Tiefe gezogen, das sich unvorsichtig dem Ufer seines Reichs, dem leuchtenden See, genähert hatte. Sie kannten nicht die Gefahr, die dort lauerte. Mit einem schnellen Flossenschlag, der ein platschendes Geräusch verursachte und den eben noch glatten See kräuselte, tauchte er auf den Grund. Eng am felsigen Boden des Gewässers glitt er auf das Ufer zu. Die leuchtenden Augen des Landtieres wiesen ihm den Weg. Im trüben Grün entdeckte er vier bis auf den Grund ragende Säulen, die Beine seines Opfers. Seine Beute schien recht groß zu sein, aber das Wasser war sein Element. Landbewohner konnten in ihm nicht atmen. Sobald er sie unter die Seeoberfläche gezogen hatte, würde sie ertrinken. Als er sie fast erreicht hatte, schnellte er in einem flachen Winkel aus dem Wasser und riss das mit dichten Reihen kegelförmiger, nadelspitzer Zähne bewehrte Maul auf.
Der große Schatten näherte sich schnell. Alle Muskeln der Hyäne spannten sich in Erwartung des Kampfes an. Hätte sie denken können, wäre sie sicher darüber verwundert gewesen, dass ein Fisch es wagte, sie anzugreifen.
Das Wasser spritzte hoch auf, als der uralte, zwölf Fuß lange Riesenbarsch und Gadennyns Dämonengeschöpf aufeinanderprallten. Die Kiefer des Fisches schnappten zu, ohne etwas zu fassen zu bekommen. Die Zähne der Hyäne schlugen tief in den harten Schädel des Barschs, knackten ihn wie eine Nuss. Seine Schwanzflosse peitschte noch das Wasser und wühlte es auf, als er längst tot war.
Ihre Beute reichte aus, um ihren Hunger über viele Tage zu stillen. Sie hatte gefressen, getrunken und sich ausgeruht. Ihre Wunde hatte sich geschlossen, und sie spürte kaum noch Schmerzen. Es war an der Zeit, den unterirdischen See zu verlassen und weiterzuziehen, um ihre Bestimmung als Werkzeug des Meisters zu erfüllen. Aber dann geschah etwas, dass sie veranlasste, nicht den engen Gang nach draußen, durch den sie die Höhle ereicht hatte, sondern einen anderen Weg zu wählen.
Ein Gegenstand schwamm auf dem Wasser.
Er trieb nicht weit von ihrer Lagerstätte ans Ufer, und sie tappte hinüber, um ihn neugierig zu beschnüffeln. Er roch nach Mensch! Sie hatte einen Schuh entdeckt, auch wenn sie sich dessen natürlich nicht bewusst war. Aber eines sagte ihr ihr tierischer Verstand dennoch: Dort wo er herkam, musste es Menschen geben.
Sie hasste Menschen. Ja, auch Tiere können hassen, wenn sie der Freiheit beraubt und gequält werden, so wie sie es hatte erleiden müssen. Seltsamerweise galt dieser überwältigende Hass nicht ihrem Meister, der ihren Körper – unter furchtbaren Qualen für sie – verändert hatte. Instinktiv betrachtete sie ihn nicht als Menschen, sondern als Leittier ihrer eigenen Art, das sie – wie früher ihre Rudelführerin – wegen des Rangunterschieds beißen und erniedrigen durfte. Aber ihr Meister hatte ihr auch die Fähigkeit gegeben, Menschen zu töten. Sie hatte schon einige Male davon Gebrauch gemacht und würde es bei jeder sich bietenden Gelegenheit wieder tun. Der Drang, diese verhassten Zweibeiner umzubringen, war größer als jedes andere Bedürfnis. Es bereitete ihr überwältigendes Vergnügen.
Sie folgte dem Seeufer in die Richtung, aus der der Schuh angetrieben worden war, und fand an seinem Ende einen Zufluss, einen kleinen plätschernden Bach, der durch einen engen Tunnel geflossen kam. Sie zwängte sich hinein und folgte dem Gang, der ihrem Körper gerade genug Platz bot. Sie kroch, tief an den Boden geduckt und mit dem Rücken fast die Decke streifend, immer weiter das Bachbett hinauf, so lange, bis selbst ihre ausgezeichneten Nachtaugen nicht mehr den geringsten Lichtschimmer entdecken konnten. In völliger Dunkelheit schob sie sich vorwärts, umspült vom eiskalten Wasser, getrieben von Hass und der Gier nach menschlichem Blut. Die Kälte drang von ihrem durchnässten Fell bis in ihre Knochen. Die Wunde schmerzte wieder stark. Wenn der Durchlass zu schmal für sie würde, gäbe es keine Chance zur Umkehr. Sie müsste dann in diesem Gang verenden. Aber der Tunnel erweiterte sich schließlich, sodass sie wieder aufrecht laufen konnte.
Und dann vernahm sie ganz leise Stimmen und ein schwaches klopfendes Geräusch. Töne hallen in Höhlen und Tunneln extrem weit, und so musste sie noch anderthalb Tage lang weitertrotten, bis sie schließlich einen schwachen Lichtschimmer wahrnahm. In diesem Schein erkannte sie, dass sich die Höhlenwände verändert hatten. Sie zeigten sich nicht mehr rau und unregelmäßig, sondern glatt und eben. Der Bach floss noch immer am Fuß des Gangs, jedoch in einem ausgehauenen Graben am Rand. Sie hatte keine Vorstellung davon, dass sie sich in einem verlassenen Stollen eines weit verzweigten Bergwerks befand, einer Silbermine. Die Stimmen und die Geräusche der Spitzhacken und Schaufeln der Minenarbeiter wurden lauter. Sie hörte ein Poltern und Fluchen. Dann verstummten die Arbeitsgeräusche. Die Menschen mussten nun ganz nahe sein. Wenig später hörte sie die sich nähernden Schritte eines einzelnen Zweibeiners. Der Lichtschein wurde heller. Von ihm magisch angezogen, lief sie mit gesträubtem Fell und gefletschten Zähnen weiter.
Ein großer Erzbrocken löste sich von der Wand, polterte auf den Boden des Stollens und traf beinahe den Fuß eines der vier Männer, die im Licht der Grubenöllampen arbeiteten. Der Vorarbeiter schimpfte:
„Passt doch auf! Wie oft habe ich euch gesagt, ihr sollt zurücktreten, bevor einer verletzt wird.“
Mit ihren Spitzhacken zertrümmerten zwei von ihnen das Felsstück, während ein Dritter das zerkleinerte Material in einen zweiachsigen Karren lud, vor dem ein angeschirrter Esel stand. Der Wagen war fast bis zum Rand mit Erz gefüllt.
„Das reicht. Bring die Ladung jetzt raus, Idu. Ihr anderen könnt eine Pause einlegen. Ich schau mich mal dort drüben ein wenig um.“
Er deutete hinter sich ins Dunkel.
Idu setzte sich auf den kleinen Kutschbock, nahm die Zügel und gab damit dem Esel, der mit hängendem Haupt schlief, einen aufmunternden Klaps auf das Hinterteil. Der stellte die Ohren hoch, schüttelte den Kopf und