Die Dämonen. Roland Enders
Er überlegte, ob er sie mit einem Pfeil erschießen könnte, aber das schien unmöglich, ohne Cora schwer zu verletzen. Er blickte zu den anderen, die um das erloschene Feuer in ihre Decken gewickelt lagen, und war ein wenig beruhigt, als er Bocs leises Schnarchen hörte. Wenn der Schmied aufwachte und sähe, in welcher Gefahr seine Frau schwebte, würde er zu ihr hinüberstürzen und versuchen, die Schlange mit bloßen Händen wegzureißen. Es wäre ihr oder sein Tod.
Neben ihm lag Gormen. Vorsichtig berührte er seinen Arm. Der Schwarze Mönch erwachte augenblicklich. Der Waldläufer legte einen Finger über die Lippen, dann erklärte er leise die Situation. Der Magier handelte augenblicklich. Spin sah, wie die Schlange kurz zuckte und dann mitten in der Häutungsbewegung erstarrte. Gormen ging hinüber, fasste sie am Schwanz und hob sie hoch. Sie war steif wie ein Ast. Er holte aus und warf sie mit weitem Schwung ins Gebüsch.
„Was hast du gemacht?“, wollte Spin wissen.
„Ich habe ihre Muskeln erstarren lassen. Sie konnte sich nicht mehr bewegen.“
„Ist sie tot?“
„Nein. Warum sollte ich sie töten? Sie stellt keine Gefahr mehr dar.“
Der Waldläufer war da anderer Meinung, aber er ließ es auf sich beruhen. Boc war durch ihr Gespräch auch erwacht. Er setzte sich auf, gähnte und rieb sich die Augen.
„Frühstückszeit“, schlug er vor. Zum Glück hatte er nichts mitbekommen. Spin blickte wieder zu Gormen. Der starrte nachdenklich auf die immer noch schlafende Cora.
„Da stimmt etwas nicht.“
Spin trat neben ihn und erkannte, was der Mönch meinte: Cora lag starr, aber mit offenen Augen da. Ein Schreck durchzuckte ihn. War sie doch gebissen worden? Rasch beugte er sich zu ihr hinab und fühlte ihren Puls. Er schlug gleichmäßig. Sie atmete immer noch flach wie eine Schlafende. Ab und zu blinzelte sie, aber ihre Pupillen wirkten blicklos wie die einer Toten.
„Cora!“ Spin schüttelte sie am Arm, doch sie zeigte keine Reaktion. Boc, der sich aus seinen Decken geschält hatte, stieß ihn beiseite. Dann riss er sie in seine Arme.
„Cora, Cora! Was ist mit dir?“
Gormen legte eine Hand auf seine Schulter.
„Sie schläft, Boc. Es geht ihr gut.“
„Aber warum hat sie dann die Augen offen? Wieso wacht sie nicht auf?“
„Ich weiß es nicht. Lass mich sie untersuchen.“
Der verängstigte Schmied wiegte seine Frau in den Armen.
„Ich verstehe das nicht. Was ist bloß geschehen?“
Tränen kullerten über seine Wangen.
Spin und Gormen blickten sich ratlos an. Sie waren ebenso verwirrt wie Boc und wussten keinen Trost für ihn.
Plötzlich bewegte sich die junge Frau und hustete leise. Boc schrie:
„Cora! Meine Liebste. Wo bist du gewesen?“
Die Angesprochene schien verwirrt.
„Warum weinst du, Boc? Ich bin doch hier. Ich habe geschlafen und einen Traum gehabt. Jetzt bin ich wieder bei euch.“
Cora wollte nicht über ihren Traum sprechen. Sie spielte die Tatsache, dass sie mit offenen Augen wie tot dagelegen hatte, ein wenig herunter. Sie sei übermüdet und die Reise sehr anstrengend gewesen. So etwas käme vor. Es sei alles in Ordnung mit ihr, und sie fühle sich gesund.
Die Besorgnis von Boc, der sich nicht damit zufrieden geben wollte, und die ruhigen und besonnen, aber gleichwohl hartnäckigen Fragen von Gormen und Spin begannen ihr auf die Nerven zu gehen. Doch bevor es zum Streit kommen konnte, erschien Zpixs wie ein Geist. Gormen zuckte zusammen. Selbst die Koridreaner erschraken, obwohl sie die Manifestation schon oft erlebt hatten.
Der Xinghi blickte sie an. Auf Cora, die allmählich Übung darin bekam, das minimale Mienenspiel und die umso auffälligeren Bewegungen der Ohren zu deuten, machte er einen nachdenklichen Eindruck. Sie fragte ihn ohne Umschweife:
„Hat der Rat der Xinghi eine Entscheidung getroffen, Zpixs? Wirst du uns helfen?“
„Der Rat hat entschieden, dass der König von Koridrea wohl keine Bedrohung für unser Volk ist.“
Spin runzelte die Stirn.
„Der König von Koridrea? Du meinst Bredos, den alten Silberhelm? Natürlich ist er keine Bedrohung für euch. Aber was hat der denn damit zu tun?
„König Bredos ist tot. Athlan Gadennyn trägt jetzt die Herrscherkrone.“
Cora keuchte.
„Semanius ist – König von Koridrea? Du musst dich irren, Zpixs.“
Der kleine Waldbewohner antwortete nicht. Allmählich ging ihnen auf, dass es stimmen musste: Die Xinghi beobachteten die Menschen jenseits der Berge genau und wussten fast alles über sie. Eine zeitlang fühlten sich Cora und ihre Gefährten so geschockt, dass niemand ein Wort sprach. Boc fand als Erster seine Stimme wieder.
„Wenn die Xinghi keine Bedrohung in Gadennyn sehen, dann wirst du uns also auch nicht helfen. Ohne dich haben wir keine Chance gegen diesen mächtigen Magier, Zpixs. Es ist vorbei. Unsere Mission ist zu Ende.“
Cora widersprach scharf:
„Aber ihr müsst doch einsehen, dass er erst uns und dann euch vernichten wird. Wie könnt ihr nur so verbohrt sein!“
„Der Rat glaubt zwar nicht, dass sich Gadennyn mit einem Heer in die Ostlande traut, gesteht aber auch ein, dass ihr vielleicht doch recht haben könntet. Er hat mir deshalb den Auftrag gegeben, euch zu begleiten und bei eurem Kampf gegen den Lordmagier zu beobachten. Sollte ich zu dem Schluss kommen, dass Gadennyn eines Tages zur Gefahr für unser Volk werden könnte, dann habe ich freie Hand zu tun, was immer ich für das Beste für unser Volk halte.“
Gormen begriff als Erster.
„Dann wirst du uns vielleicht doch helfen?“
„Ich habe einen Eid geschworen, dem Rat zu gehorchen. Und das werde ich auch tun. Aber ich bin der einzige unseres Volkes, der Gadennyn schon einmal begegnet ist und weiß, welch furchtbare Bedrohung er darstellt. Da man mir freie Hand gegeben hat, selbst zu entscheiden, werde ich euch helfen.“
Cora nahm das kleine Geschöpf in die Arme und drückte es an sich.
„Du bist ein echter Freund. Wir danken dir, lieber Zpixs.“
Die anderen brachten ebenfalls ihre Freude über die Entscheidung des Waldbewohners zum Ausdruck, aber Spin beendete es mit den Worten:
„Lasst uns so bald wie möglich aufbrechen. Wir haben zwar noch genug Zeit, um rechtzeitig am Treffpunkt mit Traigar, Duna und den Schwarzen Kämpfern zu sein, aber es ist auch noch ein beschwerlicher Weg über den Pass.“
„Der Pass ist jetzt für euch Menschen unpassierbar. Ich war vor kurzem dort. Hätte ich die Zeit nicht verändert, wäre ich bald erfroren. Als ihr über die Berge gekommen seid, war es Sommer. Jetzt bedeckt der Schnee den Passweg so hoch, dass ihr einen Tunnel graben müsstet. Es wehen eiskalte Winde dort oben. Ihr würdet keine Nacht überstehen.“
„Aber was machen wir dann?“
„Wir müssen die Vas-Thet-Berge südlich umgehen.“
Spin schüttelte den Kopf.
„Das würden wir nie rechtzeitig schaffen. Der Umweg beträgt sicher mehr als tausend Meilen!“
„Weit mehr als tausend Meilen, Spin“, erklärte Zpixs. „Aber die Südländer haben euch ausdauernde und schnelle Rösser geschenkt. Ich weiß einen Weg, auf dem wir rasch vorankommen Wir könnten fünfzig Meilen am Tag schaffen und in etwa drei Wochen die Küste der Südlande erreichen. Es gibt dort einen Seehafen, von dem Handelsschiffe nach Shoal segeln. Die Reise über das Meer dauert etwa eine Woche. Mit etwas Glück könnten wir schon in einem Monat in Shoala