Der Mädchenfänger. Peter Schmidt
Baumkronen an der Straße waren so stark beschnitten, dass um diese Jahreszeit nur noch ein paar kahle schwarze Äste in den Himmel ragten. Eigentlich bevorzugte er freundliche Häuser wie das Gartenhaus auf der Insel, aber von den Häusern, die er in den letzten sechs Jahren gemietet hatten, waren ein paar noch schlimmer gewesen als dieses hier.
Vermutlich war das nur eine Art von Projektion seiner Furcht, diesmal könnte doch noch etwas schiefgehen.
Die Sache hatte zu oft geklappt, als dass er sich nicht manchmal fragte, ob er immer so ungeschoren davonkommen würde wie bisher.
Bevor er hinunter in den Keller ging, nahm er die tiefgefrorene Pizza aus dem Kühlschrank. Er wusste nicht, ob Franziska Pizza mochte. Junge Lehrerinnen hatten oft einen verrückten Geschmack und benahmen sich ganz anders, als man erwartete.
Wahrscheinlich hing es damit zusammen, dass sie Freigeister sein wollten und ihre Bildung einsetzten, um sich von den Konventionen zu befreien, soweit das überhaupt möglich war, ohne den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen.
Und dazu gehörte es auch, bestimmte Essensgewohnheiten abzulehnen, die gerade en vogue waren. Kein weißes Brot, weil das zu wenig Vitamine und Mineralstoffe enthielt. Keine polnischen Gänse, weil die Polen ihre Gänse stopften. Kein Kaffee aus Kolumbien, sondern lieber aus den armen Ländern Mittelamerikas – und falls doch, dann nur von unabhängigen, privaten Genossenschaften mit eigenem Vertrieb in Europa, um ein Zeichen gegen den Weltkaffeeimperialismus zu setzen.
Er hoffte, dass Franziska zu der Sorte Frauen gehörte, die lieber an ihren Körper und an ihre Gefühle dachten, als sich damit zu beschäftigen, wie man die Welt verändern konnte.
Als er die Kellertür aufgeschlossen hatte und vor seinem "Labor" stand, dem Werk- und Studioraum, in dem sich auch seine Dampfzentrifuge und die Operationsgeräte befanden, horchte er einen Moment lang auf Geräusche.
Aber im Haus war nur das Summen der neuen Ölheizung zu hören. Wenn Wasser in die Badewanne einlief und die Waschmaschine arbeitete, schlug manchmal irgendwo eine Leitung in der Wand. Oder über dem Trockenboden zwischen dem alten und dem neuen Kamin pfiff der Wind. Er hoffte inständig, dass Witzigmann nicht auf die Idee kam, den baufälligen Backsteinkamin der Koksheizung abreißen zu lassen, weil solche Arbeiten eine Menge Handwerker ins Haus bringen und alle seine Pläne mit Franziska über den Haufen werfen würden.
Das Vorhängeschloss an der Labortür sah zwar unscheinbar aus, war aber mit seinem gehärteten Bügel und dem Aufbohrschutz so ungefähr das Beste, was es auf dem Gebiet gab. Und die Beschläge an der Tür und im Rahmen hatte er gleich nach seinem Einzug von einem Schlosser austauschen lassen. Nein, um in das Labor zu kommen und den Durchgang zum Anbau zu finden, musste man schon professionelle Geräte einsetzen und genau wissen, wonach man suchte.
Quant schob die Garderobe beiseite – sie lief ganz leicht auf den neuen Schienen – und warf einen Blick durch den Türspion in Franziskas Keller.
Er hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, um die beiden Räume so gemütlich wie ein kleines Apartment wirken zu lassen. Nur das Badezimmer machte einen etwas provisorischen Eindruck mit der eingebauten Dusche aus Leichtmetall und Kunststoffscheiben. Die Toilette dagegen war zwar genauso alt wie das Haus, aber von der gediegenen Art, die heutzutage ein Vermögen kostete.
Er nahm an, dass hier unten früher ein Partykeller gewesen war und dass man die anderen Räume als provisorische Gästewohnung benutzt hatte, obwohl sie keine Fenster besaßen, denn im Keller nebenan stand eine Theke mit Barhockern, und die Decken und Wände waren wie bei einer Heimsauna mit Fichtenholz verschalt.
Sonst wäre es auch ganz unverständlich gewesen, warum die Toilette schwarz gekachelt war. Die Kacheln hatten feine Goldränder, und die Deckenlampe aus Muschelpatt verbreitete anheimelndes gelbgrünes Licht.
Franziska saß auf der Couch und las in seinem "Tagebuch", die langen Beine übereinandergeschlagen. Ihr Rock war hochgerutscht, und darüber sah man etwas von ihrem hellen Slip. Er spürte ein Kribbeln in der Leistengegend, als sein Blick zu ihrem Gesicht hinaufglitt. Es war feucht von den Nachwirkungen des Compremols. Genauso feucht wie ihr Haar …
Sie war schön. Er hätte sich selbst die Hand geben können vor Begeisterung. Die Sache nahm sich wirklich gut aus. Als er damals damit angefangen hatte, vor etwa sechs Jahren, war alles viel schwieriger gewesen. Plötzlich musste man tausend Dinge berücksichtigen: Essen, Hygiene, Kleidung, Unterhaltung. Frauen bekamen die Tage, und dann waren keine Tampons im Haus. Oder sie hatten Migräne. Manche Frauen reagierten auf Kopfschmerzen, als ginge die Welt unter. Schon ein einziger verschwundener Slip konnte den Untergang des Abendlandes für sie bedeuten.
Er hatte eine Weile gebraucht, um zu begreifen, dass man sie mit Platten und Videofilmen, mit Illustrierten und Büchern bei Laune halten musste. Es war wichtig, eine Atmosphäre des Vertrauens und der Sympathie zu schaffen. Natürlich hatten sie am Anfang immer Probleme, sich an ihre neue Situation zu gewöhnen.
Aber überraschenderweise verhielten sich die meisten Mädchen so ähnlich wie bei Geiselnahmen in Banken oder bei Flugzeugentführungen.
Das Opfer ging eine Art Komplizenschaft mit dem Täter ein. Vor die Alternative gestellt, ständig mit der Todesangst leben zu müssen oder ihm einfach zu Willen zu sein, keimte plötzlich so etwas wie Sympathie und sogar Identifikation auf.
Das war der Zustand, den er anstrebte. Jedenfalls am Anfang. Und er war nicht ganz einfach zu erreichen, weil man jedes seiner Worte genau abwägen musste.
"Hallo, Franziska", sagte er, als er aufgeschlossen hatte. "Mein Name ist Robert …"
Franziska legte Quants "Tagebuch" beiseite und sah ihn wortlos an. Ihre Augenfarbe war genauso, wie er es sich immer gewünscht hatte. Nicht einfach bloß einfarbig, weil das unweigerlich langweilig wirkte.
Ein schlankes, offenes Gesicht mit hellblauen Augen sah nach seinem Geschmack nur dann wirklich schön und nicht zu flach oder nichtssagend aus, wenn die Farbe der Pupillen leicht ins Grünliche spielte. Aber der grünliche Schimmer konnte auch von der Deckenbeleuchtung stammen. Das war nicht ganz klar.
Er blickte unschlüssig zum Lampenschirm. Vielleicht hätte er diesen verdammten Muschelpattschirm – der gleiche wie in der Toilette, nur mehr als doppelt so groß – doch lieber auswechseln sollen?
"Was ist los mit Ihnen, Franziska?“, fragte er. "Haben Sie die Sprache verloren?"
Sie lehnte sich zurück, eine Hand aufgestützt, als fühle sie sich immer noch schwach, und verfolgte misstrauisch seine Bewegungen. "Warum … warum bin ich hier?"
Nun gut, das war also ihre Stimme. Vielleicht nicht so berauschend – nicht so erotisch –, wie er gehofft hatte, aber in Ordnung. Er hatte sie nur kurz an der Buchrückgabe in der Bibliothek gehört. Da war ihm gar nicht aufgefallen, dass sie eine Tonlage zu tief lag, wie die einer wesentlich älteren Frau. Doch damit konnte man leben. Bei manchen Mädchen schlug das Compremol auf die Stimmbänder. Es enthielt eine neuartige chemische Verbindung, Zoclocyd, das einen vorübergehenden Einfluss auf den Sprechapparat hatte.
"Zur Erholung, Franziska. Um ein paar Stunden auszuspannen. Ich habe Ihnen etwas zu essen mitgebracht. Sie können's sich selbst in der Küche fertigmachen, eine tiefgefrorene Pizza." Er zeigte in den Nebenraum. "Und im Kühlschrank ist Weißwein und Schafskäse."
"Was heißt ausspannen? Wo bin ich?"
"An einem sicheren Ort. Mögen Sie Salamipizza?"
"Bitte sagen Sie mir, wo ich bin."
"Oh, natürlich, gern. Etwa fünfzig Kilometer von Ihrer Wohnung entfernt in meinem Haus an der Küste." Er ging hinüber in die Küche, um die Pizza in den elektrischen Backofen zu legen. Franziska brauchte nicht zu wissen, dass sie sich in ihrer Heimatstadt befand. Das hätte nur falsche Hoffnungen in ihr geweckt und ihr das Gefühl vermittelt, von hier aus in die Freiheit sei es lediglich ein kleiner Schritt.
"Und wie bin ich in Ihr Haus gekommen?“, fragte sie, als er in ihr Zimmer zurückgekehrt war. "Ich muss ohnmächtig geworden sein … im