Ost-wärts. Thomas Helm
Nur eine Bratensauce zu entfetten hatte einer der Köche vergessen. Das erfolgte auf seinen Hinweis hin sofort.
Daraufhin gab er das heutige Mittagessen zur Ausgabe frei. »Alles in Ordnung, Männer! An die Gewehre!«, rief er seinen Leuten zu und klopfte dem rotbärtigen Schichtkoch anerkennend auf die Schulter.
Kappner lief nach hinten ins Küchenleiterbüro und setzte sich auf Lisas Stuhl. Von da aus konnte er durch die fast wandbreite Glasscheibe hindurch den gesamten Ausgabebereich überschauen.
Dort drängten sich bereits die ersten Essenteilnehmer in einer langen Reihe vor dem Tresen.
Er brannte sich eine Zigarette an, pustete den Rauch nach oben zur Ablufthutze und lehnte sich mit dem Stuhl gegen die Wand zurück.
Nicht oft bot sich ihm die Gelegenheit, um seine Köche bei der Arbeit zu beobachten. Wobei er nicht nur schaute, sondern gelegentlich auch korrigierend eingriff.
Doch jedes Mal wieder erinnerte ihn das an die eigene Lehrausbildung. Und auch an die Jahre danach die er als Koch arbeitete.
Wie doch die Zeit verfliegt, sinnierte er und stieß die Asche der »Club« in einen Aschbecher.
Ist es wahrhaftig über zwanzig Jahre her, dass ich erstmalig mein Schweißtuch in dieser Großgaststätte in der Elbmetropole umbinden durfte? In dieser immens großen Küche in einem Kellergeschoss am Altmarkt?
Denn dort begann ja meine Ausbildung. Und im zweiten Lehrjahr entdeckte ich in der ersten »Nationalitätengaststätte« der Stadt meine Liebe für die ungarische Küche. Im »Szeged«.
Das dritte Jahr schuftete ich in dem alten angeblich – renommierten–Hotel. Das erhob sich dicht neben der gewaltigen blau gestrichenen Stahl-Hängebrücke. Die dort weithin sichtbar die Elbe überspannte.
Im Sommer legten die qualmenden Raddampfer vor dem Biergarten am Ufer an. Hunderte Gäste gingen von Bord und strömten herein. Sie belegten auch die Stühle im Wintergarten, dem kleinen und dem großen Saal.
Und uns in Küche und Service stand der Arsch in Flammen! Aber in dieser Hotelküche lernte ich am meisten, verbrachte dort die beste Zeit meiner Lehre. Und das nicht nur, weil wir öfters nach dem Ende der Spätschicht im wenige Meter entfernten »Körnergarten« einkehrten. Um gemeinsam mit den Kellnern unser Schichtbier zu trinken.
Kappner schaute noch einen Moment konzentriert nach vorn zur Ausgabereihe. Die lange Schlange war inzwischen sichtlich kürzer geworden. Es ging flott, der Schichtleiter hatte alles im Griff.
Kappner drückte die Kippe im Ascher aus und gab sich noch ein bisschen seinen Erinnerungen hin.
Nach drei Jahren bekam ich meinen Facharbeiterbrief.
Doch statt in dem von mir erstrebten Hotelrestaurant eine Anstellung zu erhalten, kam es ganz anders.
Vorerst durfte ich für achtzehn Monate bei der NVA in größeren Kesseln und Pfannen kochen.
Um anschließend, in einigen feinen Küchen der Republik, den Kochlöffel wiederum in kleineren Töpfen zu schwingen.
Kappner musste unwillkürlich schmunzeln, als er sich endgültig in der Realität zurückfand. Er hängte den Kittel an den Haken und verließ den Raum, um eine Runde durchs ganze Versorgungsobjekt zu gehen.
Eine Bürounterkunft im Wohnlager (am Rosenmontag 1986)
Am Abend kamen die Mitglieder der Gruppe zusammen.
Das hatten sie in der Vorwoche so vereinbart, weil der Abschlussbericht zum Projekt »BFC« verfasst werden musste.
Diesen Bericht würde Kolja Bruhns am Donnerstag bei seiner Dienstreise mit nach Berlin nehmen.
Bevor sie mit der Zusammenkunft begannen, kontrollierten sie die gesamte Baracke und deren äußeres Umfeld. Keine unbefugten Ohren und Augen sollten dieses im höchsten Maße konspirative Treffen belauschen können.
Ursprünglich bestand die Gruppe aus vier Mitgliedern.
Geführt wurde sie von Bruhns als OibE. Die anderen drei Genossen nahm man aufgrund ihrer Verpflichtungen als IM und wegen ihren fachlichen Voraussetzungen in die Gruppe auf. Ende Vierundachtzig hatte Bruhns in Berlin ihre Akten eingesehen. Daraufhin prüfte er die Kandidaten auf zwei verschiedenen Baustellen.
Als auf dem Verdichterbaufeld bei Orda der entsprechende Baufortschritt erkennbar wurde, übernahm er sie in die Gruppe.
Johannes Brade vom Industriebau Halle zeichnete von da an verantwortlich für die bauseitigen Montagen.
Für die gesamte Elektrik und Elektronik war Bernd Kaulbach von SALH zuständig.
Arno Schimmel hingegen sicherte die notwendigen Transporte und Kraneinsätze ab.
Leider fehlte er auch beim heutigen Termin.
Johannes Brade indes hatte bereits auf dem morgendlichen Baustellenrapport von Schimmels Verschwinden gehört.
Kaulbach jedoch wusste davon noch nichts, da er von seiner betrieblichen Funktion her nicht zu den Teilnehmern der Rapporte zählte. »Wieso warten wir nicht auf Arno? Sollten wir nicht vollzählig sein, Kolja?«, fragte er überrascht.
Jetzt war für Bruhns der mit Bangen erwartete Augenblick gekommen. Die Hände rammte er tief in die Taschen seiner Jeans. Mit zusammengepressten Brauen und zu schmalen Schlitzen verengten Augen baute er sich breitbeinig vor Kaulbach und Brade auf.
Nachdem er beide eindringlich gemustert hatte, brachte er die Fabel von Arno Schimmels Nervenzusammenbruch zu Vortrag die von ihm letzte Nacht erdacht wurde. Dessen ständige Frauengeschichten und eine damit in Zusammenhang gebrachte Schwangerschaft erwähnte er ebenfalls. Wobei er bedeutsame Blicke warf und mehrmals wissend mit dem Kopf nickte.
Brade und Kaulbach waren beide schier fassungslos. Sie glaubten jedoch uneingeschränkt den Darlegungen ihres Gruppenleiters
»Ehrlich gesagt hätten wir uns um den Genossen Schimmel intensiver kümmern müssen«, sinnierte Bruhns laut vor sich hin. »Nun ja. Sobald er wieder auftaucht, werden wir das auch tun!« Er kratzte sich am Kopf und verschränkte dann die Arme vor der Brust. »Denn alles wird sich bestimmt bald aufklären. Schließlich sucht auch die Miliz nach unserem Klaus.« Er deutete auf seine beiden Mitstreiter und hob die Stimme. »Aber dessen ungeachtet, Genossen!. Die Konspiration zum Projekt muss auf jeden Fall gesichert bleiben!« Sie nickten zustimmend, woraufhin er noch etwas anfügte. »Weil der Schimmel verschwunden ist, werden wir als Gruppe vorerst nichts unternehmen!« Er stieß ein kurzes, schrilles Lachen aus. »Eigentlich kein Problem, weil wir uns nach der heutigen Zusammenkunft ohnehin auflösen!« Daraufhin wurden seine Züge wieder fast ausdruckslos. »Daher, Genossen, sollten wir uns jetzt dem ursprünglichen Anlass zuwenden. Dem Abschlussbericht für das Ministerium in Berlin.« Rasch legte er Bade und Kaulbach jeweils ein Exemplar des von ihm erstellten Berichtsentwurfes vor.
Beide schauten das Papier flüchtig durch. Wie nicht anders von Bruhns erwartete, stimmten sie sofort dem Inhalt zu.
Was hätten sie auch sonst formulieren sollen? Schließlich stand ihr Gruppenleiter am besten in der Materie, trug stets den Hut für alles.
Letztlich war es Brade, der einen sachlichen Fehler im Bericht entdeckt zu haben glaubte. »Entschuldige bitte, Kolja! Du schreibst hier von einer Sollbruchstelle. Wir mussten aber eine komplette Sollbruch –Wand setzen. Sonst hätten wir ja Probleme beim Einbau bekommen. Sollten wir das nicht verbessern?«
Bruhns stöhnte auf und verdrehte die Augen. Verdammter Krümelkacker dachte er. Dann jedoch bekundete er seine Zustimmung mit einem Nicken und setzte sich an einen Schreibtisch.
Auf dem stand einer der wenigen »PC 1715«, die es auf der Baustelle bisher überhaupt gab.
Indem sie Bruhns über die Schulter schauten, zeigten Bade und Kaulbach bereits angemessene Bewunderung. Wie ihr Gruppenleiter die Berichtsdatei am Rechner aufrief und mittels der Textverarbeitung den Fehler rasch korrigierte, dass beeindruckte sie ungemein.