Ost-wärts. Thomas Helm
fand Gefallen daran. Was er auch ausführlich auf einer Postkarte vermerkte, die er an seine Eltern schickte.
Im vergangenen Jahr jedoch im Sommerlager der GST bei Hildburghausen lernte Bruhns die dunklen Wälder Thüringens auch beim Geländesport kennen.
Wobei er das mitgetragene Kleinkalibergewehr nicht als hinderlich empfand.
Neben den »Hauptamtlichen« von der Gesellschaft nahm auch ein Feldwebel der Reserve die Burschen unter seine »Fittiche«. Seine Aufgabe bestand darin, ihnen die Grundregeln des militärischen Alltags beizubringen. Das bekam er auch tadellos hin.
Doch leider gab es am Ende des Sommerlagers ein peinliches Vorkommnis, von dem auch Bruhns zufällig Kenntnis erhielt.
Zur abendlichen Dämmerzeit zog sich der Feldwebel in die vermeintliche Einsamkeit hinter einem Geräteschuppen zurück. Doch er war nicht allein. Er hielt sich dort mit einem blonden, langhaarigen Jungen auf.
Dummerweise latschte ein anderer Bursche der zu dieser Zeit Wache schieben durfte auch hinter eben diesen Schuppen. Aber er musste so dringend pinkeln, dass er dafür sogar seinen Posten verließ.
Im Halbdunkel erblickte er den Feldwebel. Gerade in dem Augenblick als dieser mit herabgelassener Hose vorm Hinterteil des schlaksigen Jungen stand. Dem Langhaarigen schien das gut zu tun, was der Feldwebel ihm antat. So zumindest hätte man sein Stöhnen deuten können.
Der völlig schockierte Wachposten lief sofort zum Lagerleiter. Dort erstattete er ungeachtet seines eigenen Wachvergehens einen brühwarmen Bericht.
Zwei Tage später sollte das Lager planmäßig enden. Darum verdonnerte man die wenigen Jungs, die von dieser Sache überhaupt etwas mitbekommen hatten, zur strikten Verschwiegenheit.
Im Falle eines festgestellten Verschwiegenheitsbruchs drohte man ihnen die unehrenhafte und vorzeitige Beendigung ihrer Lehre an. Also hielten sie alle brav die Klappe die Angelegenheit wurde unter den Teppich gekehrt.
Daran erinnerte sich Michael Bruhns noch recht gut.
Doch nun wartete er gemeinsam mit vielen anderen Jugendlichen im Wehrkreiskommando auf den Aufruf seines Namens.
Wenig später war es so weit. Entkleidet bis auf die Unterwäsche harrte er der kommenden Dinge.
Nachdem man ihn dazu aufforderte, absolvierte er alle ärztlichen Untersuchungen problemlos. Auch die wichtigen Tests bestand er mit Bravour. Letztendlich musste er nur noch zum Abschlussgespräch.
In die so genannte »Erpresserrunde«.
Der letzte Teil der Musterung rief bei vielen der jungen Männer Argwohn und auch Beklemmung hervor. Denn nach Bekanntgabe der Tauglichkeit versuchte man stets, die Wehrpflichtigen für eine dreijährige Dienstzeit zu beschwatzen. Wenn nicht sogar zu fünfzehn Jahren als Berufssoldat.
Die üblichen achtzehn Monate Grundwehrdienst schienen in dieser Runde absolut kein Thema zu sein!
Auch Michael Bruhns wurde zum Abschlussgespräch in einen gesonderten Raum gerufen. Eingangs teilte man ihm mit, dass er uneingeschränkt wehrtauglich ist.
Unter den Offizieren der Musterungskommission die an einem langen Tisch vor ihm in saßen befand sich auch ein jüngerer Hauptmann.
Der stellte sich freundlich lächelnd als Mitarbeiter des MfS vor. Dann bat er Bruhns, mit ihm an einem seitwärts stehenden Tisch Platz zu nehmen. Dort kam der Offizier unumwunden auf den Punkt. »Sie sind, soweit ich es Ihren Unterlagen entnehme, als Baufacharbeiter mit Abitur der richtige Mann für uns. Ich meine, wenn Sie sich für drei Jahre zum MfS-Wachregiment nach Berlin verpflichten würden, Jugendfreund Bruhns!«, sagte er mit einem verbissen wirkenden Lächeln.
Natürlich hatte Bruhns von dieser »Stasieinheit« schon gehört. Wenn auch viele nur hinter vorgehaltener Hand von ihr sprachen.
Dass er jedoch hier und noch dazu von diesem Hauptmann ein so konkretes Angebot erhielt, dass erfüllte ihn plötzlich mit einem fast unerklärlichen Stolz. Denn genau so etwas schwebte ihm doch im Grunde genommen vor!
Michael Bruhns verpflichtete sich für drei Jahre.
Bereits Anfang Mai Dreiundsiebzig erhielt er den Einberufungsbefehl. Mit einem Sammeltransport brachte man ihn nach Berlin-Adlershof ins Wachregiment »Felix Dzierzynski«.
Doch die allgemein übliche, halbjährige Grundausbildung auf einer Unteroffiziersschule kam für ihn unerwartet in Wegfall. Gemeinsam mit fünf anderen Unteroffiziersanwärtern wurde er noch am gleichen Tag weitertransportiert. Man brachte sie in ein sogenanntes »Objekt«, das in der Nähe von Berlin hinter hohen Zäunen mitten im Wald gelegen war.
Dort absolvierten sie eingangs eine gepfefferte Grundausbildung. Diese dauerte aber nur drei Wochen.
Im Gegensatz zu seinen Genossen befand Bruhns den Drill als nützlich. Er lernte die Sturmbahn lieben und schoss ausgezeichnet.
Nach der Ausbildung wurde er zum Unteroffizier befördert. Von nun an konnte er vieles von dem, das er bei seiner Berufsausbildung gelernt hatte, in seinen Dienst einbringen.
Anfangs wurde er zur Montage und Wartung von geheimen »Anlagen zur Grenzsicherung« eingesetzt.
In Kenntnis der Wichtigkeit seiner Aufgaben fühlte er sich endlich richtig gefordert. Denn bei dieser Truppe erfüllten sie ihren »Kampfauftrag« nicht nur mit Spezialwerkzeugen, sondern auch mit der Makarow und der Kalaschnikow.
Er lernte einen Lkw fahren. Bald konnte er eine Planierraupe und auch einen Bagger bedienen.
Zudem empfand er die Arbeit mit Sprengstoffen als äußerst aufregend. Der Umgang mit komplizierter Elektronik und Steuerungstechnik gehörte ebenfalls zu seinen Aufgaben.
Gelegentlich wurde an einem der Grenzabschnitte um Westberlin herum eine Selbstschussanlage oder Mine ausgelöst. Daraufhin mussten Bruhns und seine Genossen ausrücken. Auch nachts, bei Wind und Wetter.
Wo es passiert war, sah es zumeist schlimm aus. Beim Anblick des Menschen oder dessen Reste verspürte er zu seiner Überraschung kein Mitleid. Sondern Wut!
Ja! Er hegte Wut auf den Schadensverursacher!
Bist selbst schuld du Idiot, dachte er. Was kriechst du auch da hinein in den Zaun? Es ist doch hinreichend bekannt, dass wir unsere Grenze auf diese Art und Weise sichern. Auch gegen Typen, wie dich! Oder? Die regen sich doch im Westfernsehen ständig darüber auf! Also kann keiner so tun als wüsste er nicht, worauf er sich einlässt, wenn er unbedingt abhauen will. Scheiße auch! Das ist eben so! Basta und aus!
Bereits im ersten Monat seiner Dienstzeit kam der Politoffizier der Kompanie auf ihn zu. Sie führten mehrere, lange Gespräche. Schließlich folgte Bruhns seinen eindringlichen Argumenten.
Nach der Kandidatenzeit trat er in die »Partei der Arbeiterklasse« ein. Jetzt, als Mitglied der SED, sagte ihm sein Gefühl, das er fortan dazugehörte!
Seine Vorgesetzten wussten um seine hervorragenden Russischkenntnisse. Darum setzte man ihn nach achtzehn Monaten nur noch gelegentlich im Grenzbereich ein. Zunehmend wurde er als Dolmetscher oder für die Übersetzungen von wichtigen Dokumenten abkommandiert.
Schließlich beschäftigte sich Bruhns fast ausschließlich mit speziellen Übersetzertätigkeiten. Auch im ständigen Verkehr mit dem sowjetischen KGB und dem KBS.
Gelegentlich nahm er auch an Schulungen für bestimmte Kampftechniken teil.
Zu Beginn seines dritten Dienstjahres baten ihn zwei Genossen aus dem Ministerium mehrfach zum Gespräch. Vor der ersten Besprechung musste er jedoch eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben.
Nun wusste er, dass ihm bei einem eventuellen Verstoß gegen die Schweigepflicht ein Verfahren wegen Landesverrates drohen würde. Nachdem er die Erklärung durchgelesen hatte, fand er das auch absolut in Ordnung.
Die Gespräche galten nur einem Ziel. Seiner Übernahme ins Ministerium für Staatssicherheit als hauptamtlicher Mitarbeiter. Zeitgleich sollte er zum Studium delegiert werden.
Bruhns