Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten. Günter Billy Hollenbach
Sein Gesicht ist beinahe ein offenes Buch.
Er starrt durch mich hindurch, denkt vermutlich unfreundliche Gedanken. Mit einem Ergebnis, das auszusprechen er sich nicht traut.
„Ich bleibe dabei. Nichts als gewagte Annahmen ohne weiterführenden Wert. Oder was steckt sonst dahinter?“
„Meinen Sie? Dann warten Sie mal ab. Wie gesagt, für mich ist die Tat persönlich, nicht im Sexuellen begründet. Ich tippe auf eine Macht-Ohnmachtbeziehung. Täuschung und Enttäuschung, Wut, wahrscheinlich auch Rache. Und ich glaube, der Täter kennt das Kellerzimmer, und Frau Aschauer ist ihm bereits früher begegnet.“
Das ergibt sich beinahe zwingend aus meinen vorherigen Annahmen. Lässt sich folglich leicht behaupten und macht Eindruck. Ich gönne mir eine Kunstpause, will mir der Aufmerksamkeit der Zuhörer sicher sein.
„Unsere Sprache wirkt leicht irreführend. Wir benutzen der Täter regelmäßig als allgemeine Bezeichnung und befinden uns damit in einer unbewussten Denkfalle.“
„Robert,“ unterbricht Corinna, „bitte keine Haarspalterei sondern ...“
„Doch, der Unterschied ist wichtig. Weil ich sicher bin: Unser Täter ist weiblich, eine Frau.“
In der Comedy wäre das der Schlusssatz, der sitzt; dem das verdutzte Publikum applaudiert. Um mich herum schweigen alle. Keiner lacht, niemand klatscht Beifall. Na schön, manchmal bleibt einem das Lachen im Hals stecken.
„Eine Frau. Sie hat wahrscheinlich eine kleiner als mittelgroße Figur, ist körperlich nur mäßig kräftig, höchstens gleichaltrig. Gut denkbar auch, dass sie mehrere Jahre jünger ist. Und ziemlich sicher vertraut mit der Umgebung.“
Überlegungen, die sich beinahe von selbst aus der Annahme Frau ergeben. Während meiner letzten Sätze behalte ich Frau Aschauer im Blick. Was ich sehe, gefällt mir nicht.
Etwas wie Angst und Schrecken in ihrer Miene.
26
Meine Zuhörer schweigen einige Augenblicke lang. Ihr Unbehagen ist – mehr noch als Überraschung – mit Händen zu greifen.
„Sind Sie Hellseher?,“ platzt es schließlich aus OK Brückner heraus. Worauf Corinna ohne viel Nachdenken sagt:
„Ja, das stimmt. Das kann der.“
In der nächsten Sekunde fliegen ihre Hände vor der Nase zusammen. Sie wirft mir eine bedauernde Grimasse zu.
Ich verdrehe nur die Augen. Meine höhere sinnliche Fähigkeit geht fremde Leute nichts an. Immerhin unternimmt Corinna einen Versuch zur Schadensbegrenzung; wenn auch mit kümmerlichem Erfolg.
„Seit seiner Zeit in Kalifornien. Dort hat er mit einer indianischen Polizeikollegin zusammengearbeitet. Die hat ihn verhext; mit ihren Augen und mit Gedanken, die von Geistern inspiriert scheinen ...“
„Was soll der Blödsinn?,“ stöhnt Brückner verärgert.
„Langsam, Kollege. Das Schlimme ist, die Frau ist sehr erfolgreich. Ihre Tatortbefunde erweisen sich immer als weitgehend zutreffend.“
Brückner bläht mokant die Wangen.
„Verstehe, die Dame betreibt Verbrechensaufklärung mit Kristallkugel und Räucherstäbchen in einem schummrigen Hinterzimmer. Und natürlich mit einer schwarzen Katze im Schoß.“
Corinna findet wieder zu gelassener Sachlichkeit.
„Mann, Brückner, nur weil Sie mit bestimmten Arbeitsweisen nicht vertraut sind, handelt es sich nicht um Lesen im Kaffeesatz. Beziehen Sie Herrn Berkamps Hinweise in Ihre Überlegungen ein; bis zum Beweis des Gegenteils. Nehmen Sie seine Aussagen als eine weitere Möglichkeit neben Ihrer eigenen Herangehensweise.“
Der lacht belustig vor sich hin.
„Sehr gut, Herr Oberindianer. Dann kennen Sie sicher auch den Brustumfang der mörderischen Unbekannten. Und wenn Sie nebenbei noch die Güte hätten, mir zu sagen, welches Nummerschild deren Auto hat, ist der Fall bestimmt in den nächsten zwei Stunden abgeschlossen.“
Wenn schon Spaß, dann richtig.
„Stimmt, Auto. Es würde mich nicht wundern, wenn die uns unbekannte Frau kein eigenes Auto besitzt. Weil ihr dazu die Mittel fehlen.“
Diese letzte Bemerkung dürfte selbst in Corinnas Augen zuviel des Guten sein. Mit wissendem Grinsen beugt sie sich zu Brückner. Wie um ihm einen vertraulichen Hinweis zu geben erklärt sie für alle hörbar:
„Wer weiß, vermutlich handelt es sich um die Leiterin des Amtes für Tugend und Anstand, die verdeckt vor Ort ermittelt hat.“
Vera schmunzelt erheitert vor sich hin.
Oberkommissar Brückner erhebt sich, schaut mit leichtem Kopfschütteln erst zu Vera, dann zu mir.
„Hab schon verstanden. Eine solche Tote geht immer an die Nerven. Am Ende hocken alle da, beschwören Geister oder reißen saudumme Witze. Manchen Leuten hilft es, seelische Anspannung abzubauen. Das kann ich mir schenken. Ich schlage vor, wir beschließen unser trautes Zusammensein. Hatte die Ehre.“
Er tut einen Schritt in Richtung Tür.
Dreht um und setzt sich wieder.
„Allerdings, wenn ich es mir recht überlege. Was dabei rauskommt, gefällt mir überhaupt nicht, Herr Berkamp.“
„Sagen Sie es trotzdem,“ bitte ich.
„Gern. Auf den ersten Blick klingt ihr Gerede wie Räuber-Latein. Falls es jedoch zutrifft, frage ich mich: Wissen Sie mehr, als Sie hier kundtun? Sie können die Kolleginnen beraten, soviel Sie wollen. In meinem Augen rücken Sie diese Aussagen in den engeren Kreis der Verdächtigen. Sie beschreiben eine weibliche Person mit einer Genauigkeit, die stutzig machen muss. Entweder sie ist Ihnen schon begegnet. Und Sie verheimlichen uns Ihren Verdacht gegen sie. Um sie zu schützen. Oder die Dame ist frei erfunden, um von ... von sich selbst abzulenken. Zumal immer noch unklar ist, wann Sie den Tatort betreten haben.“
Ein derartige Unterstellung habe ich fast erwartet, ist mir nicht fremd.
„Herr Brückner, mit ein paar einfachen Überlegungen können Sie mich als Täter ausschließen. Meine Feststellungen entspringen keiner Hexerei, sondern Aufmerksamkeit und Kopfarbeit. Ich habe den Tatort gebeten, mir seine Geschichte zu erzählen, das ist alles.“
„Danke, und wir benutzen nicht unseren Kopf?!“
„Wer weiß? Verraten Sie mir wenigstens, wer sich noch im engeren Kreis Ihrer Verdächtigen befindet.“
„Sie Hellseher wissen das doch längst. Frau Aschauer selbstverständlich. Irgendwelche Einwände?“
Mann, wenn du wüsstest, wie vorhersehbar du dich verhältst.
„Nein, Herr Brückner, was Sie denken, ist Ihre Sache. Ich dagegen halte Frau Aschauer für unschuldig. Allerdings ebenfalls für gefährdet.“
Brückners Kopf ruckt ein wenig zurück.
„Ich glaub’, Sie spinnen! Gefährdet?!“
„Sagte ich eben.“
„Haben Sie den geringsten Anhaltspunkt dafür?“
Natürlich habe ich den nicht. Aber die Möglichkeit gefällt mir.
„Das, was ich dargestellt habe. Denken Sie in Ruhe darüber nach. Schließlich liegt noch das halbe Wochenende vor Ihnen. Wenn ich einen Fehler gemacht habe, brauchen Sie ihn nur zu finden.“
„Geschenkt. Hier, Kollegin Sandner, meine Karte. Ich hoffe, Sie nehmen das Gerede dieses seltsamen Beraters nicht all zu ernst und halten sich an die Tatschen. Wir telefonieren zusammen, Montag, nach dem Mittagessen, einverstanden?“
„Gerne,