SAVANT - Flucht aus Niger 3. Michael Nolden
ich ihre kämpferischen Fähigkeiten aus nächster Nähe begutachten durfte, unterschreibe ich das blind. Wir marschieren dahin. Richtung Arlit. Unser langer Marsch, so punktuell im Wüstensand, führt bald zur wundersamen Vermehrung. Hinter unserer lockeren Kolonne sehe ich mehr und mehr Staubwolken langsamer Fahrzeuge aus der kleinen Ortschaft Akokan streben. Auf dem Weg zur Arbeit, zum Markt, mit Tauschobjekten, Nahrungsmitteln oder leer, weil die Leute einkaufen wollen. Ein ganz normales Bild an einem kriegsfreien Tag irgendwo in Afrika.
Samir hat den Jungen angeboten, sie tragen zu lassen.
Pascale hat bloß auf seine eigentümlich blinde Art gelächelt und ein schlichtes »Nein« hintangestellt. Claude, dem das Angebot erst von Nathalie übersetzt werden musste, tat mit kindlicher Entrüstung einen Schritt zurück und winkte so heftig ab, dass es ihn durch die eigene Wedelei fast von den Beinen riss. Und so passt sich unsere Marschgeschwindigkeit den Kindern an. Ist aber nicht der Schneckengang, den ich befürchtet habe.
Samir legt mir eine Hand auf die Schulter, zieht mich freundlich und bestimmt auf die Seite. In einem Beutel über seiner Schulter klappern ein paar Behälter mit Wasser und Nahrung. Und Pistolen. Er zeigt in den rückwärtigen Raum. Die Form des aufgewirbelten Drecks verändert sich und wird von etwas Schnellem unterfüttert. Zwei kleine Umrisse von Geländewagen quellen regelrecht aus der qualmenden Suppe. Zu weit weg, um ihre Zugehörigkeit identifizieren zu können.
Samir nimmt mir meine Frage vorweg. »Sicherheit. Von ARTAUD.«
Der Targi muss die besseren Augen haben, denke ich.
»ARTAUD hat Gewohnheiten entwickelt. Sie verbreiten durch ihre Patrouillen ...«
»Unbehagen?«, frage ich. So geht’s mir jedenfalls.
»Angst«, widerspricht Samir. »Bei uns nicht. ARTAUD ist berechenbar. Faul. Müde.« Er blinzelt in die Sonne. Nachdenklicher fährt er fort: »Ich bin oft hier. Ich habe einen Onkel in Arlit. Einen von vielen. Er passt auf meinen Bruder auf, der schwer krank ist.«
Ich erinnere mich. An meinen ursprünglichen Auftrag. Den Flug mit Samir und Julien, dem Luftjockey. Den Bruder und Krebs.
»Er kann nicht mehr laufen. Die Beine sind steif geworden.« Die Bitterkeit in Samirs Stimme hat jene unverträglichere Traurigkeit abgelöst, die noch durch Alkohol besänftigt werden konnte. »Krebs, hatte einer der durchreisenden Ärzte gesagt. Wenn sie von ARTAUD erwischt werden, jagt man sie davon. ARTAUD schickt eigene Ärzte. Die hatten keine Antwort. Aber Medikamente. Die wirkten nicht.« Samir zögert. »Mein Bruder hat einmal um den Tod gebeten. Kurz bevor er nicht mehr aus dem Bett kam. Seither sagt er kein Wort mehr. Wir lassen ihn nicht sterben. Es gibt Tage, da wehrt er sich gegen Essen und Trinken, verschließt den Mund und weint. Er wehrt sich gegen das Leben und alles andere, was sein Leiden verlängert. Aber wir lassen ihn nicht sterben.« Wieder macht er eine Pause. »Allah wird ihn zu sich holen, wenn es an der Zeit ist.«
Es heißt, Stolz und Ehre bestimmten das Leben von Tuareg, nicht nur das Leben der Männer. Wenn das wahr ist, dann muss eine Krankheit, die einem die Entscheidung raubt, wie mit dem eigenen Leben verfahren werden soll, für diese Menschen furchtbar sein. Wahrscheinlich noch furchtbarer als für uns. Die wir uns mit unserer westlichen Drohnenphilosophie über so schöne und antiquierte Ehrbegriffe erhoben haben.
»Mein Onkel«, sagt der Targi, »mein Onkel, Mr. UNO, ist ein sehr alter Mann, der hier lebte, als es Arlit gar nicht gab. Damals war ich noch nicht geboren. Ich kenne keinen, der lebte, als mein Onkel hier lebte. So alt ist er.«
Ein Lieferwagen überholt uns langsam. Der Motor tuckert und tickt angestrengt. Auf seiner Ladefläche hocken mehrere Schwarze auf Stoffballen. Einer sitzt auf einem zerknüllten Tuch, auf dem ich die Farben der Nationalflagge – orange, weiß, grün – wiederzuerkennen glaube.
»Die 1960er Jahre waren nicht vorbei. Da haben sie die Stadt gegründet.« Er beachtet den Lieferwagen nicht. »Sie haben Kästen auf den Sand gestellt und es Häuser genannt. Sie haben Löcher gegraben. Beides mussten sie fortan gegen den Sand verteidigen. Jeden Tag. Immer noch. Mein Bruder hat hier gearbeitet und sich später der Rebellion angeschlossen. Nicht lange. Dann hat er wieder hier gearbeitet. Dann kam der Krebs.« Ein Seufzen entfleucht mit dem Wort. »Wir gehen im Kreis, Mr. UNO. Es gibt kein Ziel. Unsere Karawanenrouten besitzen keinen Wert mehr.«
Er sieht mich mit der Sanftmut desjenigen an, der die Welt brennen sehen will.
»Die Wüste. Sie wandert. Wir sollten auch. Irgendwie.«
Ich bekomme von ihm einen Schlag auf die Schulter. Einen Ritterschlag? Einen Richterschlag? Mit der Faust anstelle eines Hammers? Über die Westler, die seine kleine sandige Oase auf dem Globus kaputt machen? Ist immer leicht, den Mund so voll zu nehmen.
»So, Mr. UNO, kommen wir an unser Ziel. Gemeinsam. Wir gehen zu meinem Onkel. Deine Freunde und wir. Kopf geradeaus!« Ein gezischter Befehl setzt ein Ausrufezeichen hinter Samirs Tuaregpredigt.
Ein Handschlag des Targi trifft mich kurz über dem Becken. Langsam reicht's mir, trotzdem klappe ich zu meiner kompletten Größe auf. Langsam reicht mir dieses kumpelhafte Getue.
Die Geländewagen der Sicherheitsleute von ARTAUD rasen an uns vorüber. Allgegenwärtige Steinchen und talkumfeiner Staub fliegen um uns herum, regnet auf uns herab. Höhnisches Gelächter schallt aus einem offenen Wagenfenster.
»Lass sie lachen!« Samir vergewissert sich, dass sich die anderen in keiner Weise verraten haben.
Gemessenen Schrittes laufen wir auf Arlit zu. Immer, wenn ich aus dem Tritt gerate, sucht sich Samir einen anderen rücklings liegenden Körperteil von mir, den er schubsen kann, mal die Schulter, zwischen den Schulterblättern. Oder er zieht mich am Unterarm, sobald ich Anzeichen von Erschöpfung zeige und mein Gang zu schleppend wird.
»Wir werden sicher erwartet.« Samir mustert die aufholenden Fahrzeuge. Das Gedränge wird dichter. Die Auswahl der Fortbewegungsmittel mannigfaltiger. Gezogene Karren neben knatternden Mopeds. Ein einzelnes Fahrrad mit einem Halbwüchsigen darauf. In den Reifen ist keine Luft.
Mir steigt der Duft aus dem Rachen eines vorbeischwankenden Kamels in die Nase.
»Ja«, sagt Samir kaum eine Minute später. »Wir werden erwartet.« Unauffällig deutet er voraus zum Ortseingang.
Die beiden Geländewagen haben dort angehalten und sich, ganz american-cop-like scherenartig positioniert und so eine engere Passage geschaffen. Eine Dachluke im rückwärtigen Teil des links von mir haltenden Fahrzeugs öffnet sich. Ein Mann schiebt seinen Oberkörper nach draußen, in der Hand eine Maschinenpistole.
Willkommen in Arlit!
[Nathalie Pagnol]
Ist es erst 6:30 Uhr oder bereits später? Unser Marsch scheint ewig zu dauern.
»Nicht stehenbleiben. Hier bleibt niemand stehen.« Unser Samir hat für Bitten nichts übrig. Je mehr er sich in seiner Rolle gefällt, desto tougher ist sein Auftreten.
Wir schleichen dahin, als seien wir bereits von der trockenen Luft erledigt. Pascale hat sich fest bei Claude untergehakt, beide verschleiert wie kleine Targi, seine blinden Augen ruhen auf mir.
Während Claude den Stoff in seinem Gesicht zurechtrückt und tiefer zieht, weil er ihm die Sicht zu rauben droht, drückt Samir seinen Schleier höher, bis knapp unter die Augen.
Nach all der Einsamkeit auf unserer Reise und einem nur kurzzeitigen Trubel in Timia ist die Anzahl derjenigen, die ihren täglichen Gang nach Arlit erledigen, richtiggehend erdrückend. Das ist mir zu viel. Ich verliere den Überblick. Den ich so dringend bewahren möchte. »Wenn wir einen anderen Weg hinein wählen? Mehr außen herum?«
Die Fingerzeige des Targi kann außer uns beiden niemand sehen. Rechts und links der Straße auf die Häuserlinie zu fallen mir unbewegliche Gestalten an den Ecken der Behausungen auf. In den leidlichen Schatten der Gassen sind noch mehr. Sitzend, kauernd. Zu zweit, zu dritt. Arlit wurde gesichert.
Samir beugt sich zu mir herab und flüstert: »Das machen sie sonst nicht.«
»Die