"Blutige Rochade". Thomas Helm
kurz vor Feldkirchen, sprach keiner von beiden ein Wort. Der Oberst starrte geradeaus, Bauerfeind grübelte.
»Wir werden hier noch rasch zu Mittag essen«, brach Führmann das Schweigen. Er bog nach rechts auf eine Straße ein, die in Richtung der Berge führte. Gekennzeichnet wurde sie durch ein Schild mit der Nummer »Einhunderteinundneunzig«.
Nach wenigen Minuten erreichten sie einen idyllisch gelegenen Gasthof.
Er nannte sich »Wirtschaft zum Schützenhaus«. Hohe Tannen säumten den Fachwerkbau und auch einen kleinen Parkplatz davor.
Zu dieser frühen Mittagszeit saßen sie allein in der gut geheizten, rustikalen Gaststube. Sie entschieden sich für das Tagesgericht. Das hatte ihnen die dralle Wirtin in einem breiten Österreichisch empfohlen.
Eine kurze Weile später standen zwei große, sehr volle Teller auf dem Tisch. Das deftig anmutende Gericht, das sie bisher nicht kannten, roch verführerisch. Zudem schmeckte es hervorragend.
Doch die beiden Männer zeigten keinen rechten Appetit. Sie stocherten mehr auf ihren Tellern herum, als dass sie etwas aßen.
Bauerfeind versuchte stattdessen, seine Beunruhigung im Zaume zu halten. »Wieso taucht denn erst heute so Knall und Fall ein Dritter auf? Wer ist das, Oberst? «, fragte er, mühsam ein Zittern in der Stimme unterdrückend.
Mit Nachdruck legte Führmann das Besteck auf dem Teller ab. »Du lernst ihn schon noch früh genug kennen. Aber, – ich muss ihn sowieso anrufen! Jetzt sofort wegen der Abstimmung«, schnauzte er zurück. Unvermittelt sprang er auf und lief zur Tür.
Vorhin beim Hereinkommen in den Gasthof hatte Bauerfeind im Flur vor der Gaststube einen Telefonapparat gesehen. Der hing dort an der Wand.
Den schien Führmann jetzt benutzen zu wollen, denn er verschwand aus dem Gastraum.
Die Wirtin kam an den Tisch. Nach Bauerfeinds Hinweis, »dass es gut geschmeckt habe«, räumte sie die halbvollen Teller ab. Kopfschüttelnd verzog sie sich mit dem Geschirr in Richtung Küche.
Bauerfeind fühlte sich durch die neue Lage ausgesprochen unwohl. Angespannt stierte er zur Tür.
Wieso telefoniert er jetzt schon wieder fragte er sich. Und wie komme ich nur an meine Waffe heran? Noch einiges mehr schoss ihm durch den Kopf. Doch da kehrte der Oberst in die Gaststube zurück.
»Ich habe soeben mit dem General gesprochen! Wir treffen uns mit ihm in einer halben Stunde. Und er sagte mir auch den genauen Treffpunkt durch«, knurrte Führmann leise aber mit gesenktem Blick. »Du erfährst alles, was für dich von Belang ist zur rechten Zeit, Frank! Lernst ihn bald kennen, den General. Also bleib locker und vertrau mir!« Daraufhin winkte er die Wirtin heran, um die Zeche zu zahlen.
Den angebotenen DM-Schein nahm sie ohne Widerspruch an. Wenn auch mit einem schiefen Lächeln. Als Wechselgeld gab sie nur österreichische Schillinge zurück.
Wenig später saßen sie wieder im Wagen.
Führmann drehte den Zündschlüssel, der Motor sprang sofort an. »Wo stecken die Stabskarten, Frank? Ich brauche sie!«, fragte er grantig.
»Hinten in meinen Campingbeutel!«, entgegnete Bauerfeind, wobei er die spontane Erregung in seiner Stimme unterdrückte. Er hob den Hintern, kniete sich auf den Sitz und langte nach dem Beutel auf der Rückbank.
Der Oberst kam nicht umhin sich zur Seite zu beugen, um ihm Platz zu schaffen. »Konntest du dafür nicht vielleicht noch mal aussteigen? «, zischte er gereizt.
Eben das wollte Bauerfeind aber auf keinen Fall! Er öffnete seinen Beutel, mit einem Griff fand er die unten liegende Waffe. Während er sie in der linken Brusttasche seines Anoraks verschwinden ließ, fasste er gleichzeitig nach den Karten. Daraufhin drehte er sich wieder herum. Die Papiere gegen die Brust gepresst, rutschte er auf seinen Sitz zurück.
Kopfschütteln riss ihm Führmann die Pläne aus der Hand, sortierte sie rasch. Eine österreichische Stabskarte breitete er auf dem Lenkrad aus. Die restlichen Blätter warf er auf Bauerfeinds Schoß.
Er brannte sich eine Zigarette an, kurbelte das Fenster ein Stück herunter und blies den Rauch hinaus. Stirnrunzelnd studierte er einige lange Minuten die Karte. Unbewusst kratzte er sich dabei mehrmals am Kopf, murmelte vor sich hin.
Bauerfeind indes bemerkte etwas. Die Hand des Obersten, in der er die qualmende Kippe hielt, zitterte sichtlich. Zugleich stieß ihm noch etwas anderes auf. Die Aufforderung, ihm doch zu vertrauen, ließ seine Alarmglocken zusätzlich schrillen. Und dass der unvorhergesehen aufgetauchte dritte Mann ein General sei, verwirrte ihn. Obendrein gestaltete es ihr Vorhaben noch ominöser als es ohne hin schon war!
Führmann faltete die Karte zusammen, gab sie wortlos an Bauerfeind zurück.
Der schmiss sie mitsamt den anderen auf den Rücksitz.
Führmann schnipste die aufgerauchte Kippe aus dem Fenster. Er drehte die Scheibe hoch, startete den Motor. »So, es geht los«, sagte er mit belegter Stimme. Er räusperte sich und warf einen flüchtigen Blick auf Bauerfeind. »Jetzt weiß ich, wo der Treffpunkt ist. Eine feine Karte ist das schon!«
Vom Parkplatz der Gastwirtschaft aus bog er nach rechts auf eine schmale Fahrbahn ein. Die wurde beiderseits von fast Halbmeter hohen geschobenen Schneewällen gesäumt.
Bauerfeind vermochte auf einem Straßenschild noch die Worte »Göfiser Straße« lesen. Daraufhin ging es leicht bergauf. Rechter Hand erhob sich dichter Wald. Auf der anderen Seite breiteten sich, bis weit in ein Tal hinab, verschneite Felder aus.
Sehe ich wahrhaftig nur Gespenster, schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf. Stand der Oberst bisher nicht immer zu mir? Wie war das denn, als vor drei Jahren der Scheiß mit dem Projektingenieur in Bara passierte? Mit dem Becker, diesen Idioten! Dem Schnüffler, der fast die ganze Operation auffliegen ließ! Führmann reagierte in Berlin sofort auf meine Nachricht, die ich ihm über Weiler übermittelt habe. Er hat alles geregelt! Niemals kam wegen der Sache mit dem Projektanten etwas nach.
Der Oberst fuhr nicht zu schnell. Sie waren gut zehn Minuten unterwegs, da öffnete sich in der bisher geschlossenen Baumfront eine breite Schneise.
Ein paar Schritte von der Straße entfernt ragte aus dem Schnee ein Schild. Das wies diese Waldschneise als einen –Forstwirtschaftsweg– aus. Mehrere festgefahrene Spuren von grobstolligen Reifen führten in den Wald hinein. Sie deuteten darauf hin, dass hier nach dem letzten Schneefall noch öfters große Fahrzeuge unterwegs waren.
Wortlos lenkte Führmann in die Schneise ein, die beiderseits von hohen, dick verschneiten Fichten gesäumt wurde.
Die Wegstrecke erwies sich als gut befahrbar. Mit den Winterreifen kamen sie problemlos voran.
Nach etwa dreihundert Metern schwang der Weg in einen sanften Bogen nach links. In den Rückspiegeln verschwand die Einfahrt von der Straße her. Sie fuhren inzwischen durch die im Schnee versunkene Einsamkeit des Waldes.
Bauerfeind verspürte im Magen ein flaues, flatteriges Gefühl. Seine Unruhe wuchs.
Führmann lenkte den Wagen unbeirrt voraus.
Wenig später endete der Waldweg in einem Wendehammer. Am Scheitelpunkt dieser Schleife traten die Bäume beiderseits ein gutes Stück zurück. So gaben sie einen herrlichen Blick frei in ein weites, verschneites Tal, das am Horizont wiederum von dichten Wäldern umfasst wurde.
Indem Führmann um die Wegekehre herum fuhr sah Bauerfeind, dass der Berghang seitlich des Weges beängstigend steil abfiel.
In Richtung zur Straße hin brachte der Oberst den Wagen zum Stehen. »Der General ist ja leider noch nicht da. Hoffentlich verspätete er sich nicht zu lange! «, sagte er wie beiläufig. Dabei starrte er angestrengt nach vorn zur Wegbiegung. Unvermittelt erschienen auf seiner Stirn feine Schweißperlen. Mit den Händen knetete er das Lenkrad.
Rasch schaute sich Bauerfeind durch die Wagenfenster um. Nur einige Schritte entfernt, bemerkte er mehrere Stapel dicker Baumstämme. Dahinter erhob sich fast drohend der tiefe Wald. Der gesamte Weg am Wendehammer erschien ihm festgefahren und festgetrampelt zu