"Blutige Rochade". Thomas Helm
über den Tisch schob.
Zuvor auf dem Weg dahin traf er kaum eine Handvoll einstige Mitstreiter in dem großen Gebäude an.
»Abwicklung« nannte man diesen Vorgang. Damit wurden die bisher gesicherten Lebensläufe und Schicksale der Mitarbeiter des aufgelösten Zentralrates neu definiert.
Weil es mit der einst so mächtigen Jugendorganisation in Riesenschritten zu Ende ging. Genau so, wie mit der gesamten Reste-DDR. Die sich in Bälde endgültig verabschieden durfte.
Ein erfreulicher Umstand jedoch versetzte Steincke zu jenem Zeitpunkt in eine verhaltene Hochstimmung. Schon allein die Tatsache, dass es ab Juli auch im Osten die D-Mark geben würde, machte Hoffnung.
Denn von dem Tag an durfte er sich als »wohlhabend« bezeichnen. Selbstredend nur insgeheim. Aber als eine besonders reizvolle Art der Selbstbefriedigung.
Egal, was da auf uns zukommt, dachte er. Ich gehe nicht unter! Nach diesem Stichtag gründe ich mit einer soliden Eigenfinanzierung eine Firma. Um als Unternehmer, diesmal ohne verdrängte Gewissensbisse, wieder reichlich Kohle zu verdienen.
Doch wie er das bewerkstelligen wollte, darüber besaß er bis zu jenem Tag noch keine konkreten Vorstellungen.
Helmuth Steincke saß vorm Schreibtisch seines bisherigen Chefs. Seine Gehaltsabrechnung ließ er wortlos in der Jackentasche verschwinden.
Frank Schirmer zeigte sich an jenem Tag noch mehr am Boden zerstört, als er ihn am Morgen nach der Maueröffnung erlebt hatte. Denn noch immer schien er sein Hauptproblem, die bevorstehende Arbeitslosigkeit, ängstlich ausgeblendet zu haben. Das tat er wohl auch, weil er bisher jeden Monat pünktlich sein Gehalt bekam.
Doch da sich das nun ebenfalls erledigt hatte, traf ihn die nackte Realität wie ein Keulenschlag!
Mit schmalen Augen und wachsenden Groll starrte Steincke auf dieses Häufchen Elend, das vor ihm hockte. Er sog an seiner Zigarette und wartete erst einmal ab.
Schließlich war er es leid. Energisch hieb er mit der Faust auf den Tisch.
Schirmer schreckte auf. Entsetzt starrte er sein Gegenüber aus dunkel umrandeten, feuchten Augen an.
»Schluss jetzt, Frank!«, polterte Steincke los. »Wieso hast du in den letzten Monaten nichts unternommen, um eine neue Arbeit zu finden? Du wusstest doch, dass es hier zu Ende geht! Oder hofftest du, als gelernter Materialist, etwa auf ’n Wunder?«
Der Abteilungsleiter ohne Posten zog eine verzweifelte Grimasse. Daraufhin vergrub er das Gesicht schutzsuchend in den Händen.
»Schirmer! Mensch Schirmer! Guck’ mich an!«, bellte Steincke. »Was hast du denn eigentlich mal gelernt? Ich meine, bevor du die jugendlichen Massen für den Sozialismus begeistern durftest?« Er stieß ein verächtliches Lachen aus. »Hast du mal ’n richtigen Beruf erlernt? Und über welche Gaben verfügst du noch, außer dass du die Leute schön zuquatschen kannst?«
Schirmer zog, wie ein gescholtenes Kind die Nase hoch. Mit zitternden Fingern brannte er sich eine Zigarette an, wischte sich mit dem Handrücken hastig über die Augen. Nach einer langen Weile des Nachdenkens hustete er mehrmals, woraufhin er die Kippe angewidert ausdrückte. »Ich habe neben dem Abitur Maurer gelernt und – «, hier dachte er kurz nach, »– ich versteh’ auch ein bisschen was vom Malern.«
»Gut! «, entgegnete Steincke. »Und über welche brauchbaren Eigenschaften verfügst du sonst noch?«
Schirmer wiegte den Kopf langsam hin und her, wobei er die Nase zum wiederholten Male hochzog. »Ich kenne ’n Haufen Leute. Auch solche, die nach wie vor was zu sagen haben. Wichtigtuer im Magistrat und ein paar Typen im Senat im Westen! Und da gibt’s einige Leitungskader aus Wohnungsverwaltungen, an den Unis, beim Roten Kreuz und so.«
Steincke hatte ein Papiertaschentuch aus einer Packung gezerrt, es vor Schirmer auf den Tisch geworfen.
Der nahm es und putzte sich verschämt die Nase. Dabei schaute er mit nassen Kalbsaugen zu seinem Besucher hin.
Steincke notierte die gehörten Angaben rasch auf einen Zettel. Für einen Moment schloss er die Augen, legte den Stift beiseite. »Ich verfüge, wie du weißt über ein abgeschlossenes Studium als Bauingenieur«, sagte er, jedes seiner Worte betonend. »Und ich hatte an der Trasse jahrelang mit dem Industriebau und mit dem Wohnungsbau zu tun. Daher kenne ich ein paar Leute von denen, die aus der Sowjetunion bereits zurück im Lande sind. Ich meine damit jene, die schon wieder ihren Fuß in der Tür haben!« Er brannte sich eine Zigarette an, lehnte sich nach hinten und hob spontan die Hände. »Also, Frank! Freund und Genosse! Mir kam da eine Idee, die mir recht gut gefällt. Gleich, nachdem auch wir hier im Osten über die Deutsche Mark verfügen, werden wir beide zusammen eine Firma gründen!« Er erhob sich flink, beugte sich zu Schirmer hin und klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter.
Der riss die Augen auf. »Hä? Was machen wir?«
Steincke stieß ihm mit der Faust gegen die Brust. »Ja, du hast mich richtig verstanden. Wir gehen in die Selbstständigkeit! Ich meine das im Ernst, weil ich von einigen Dingen fest überzeugt bin.« Er sog den Rauch ein, begann vor der Fensterfront auf und ab zu schlendern. »Wenn hier ab Juli die harte Währung unter die Leute gestreut wird«, sagte er im nachdenklichen Tonfall, »gibt es hier im Osten bestimmt auch alles zu kaufen. Wie im Westen meine ich. Nicht nur Fresserei und Autos, sondern auch Baumaterialien. Gerade dafür wird viel Geld ausgegeben werden! Um endlich die Häuser und Wohnungen, die bisher vernachlässigt worden zu renovieren und zu modernisieren. Damit sind Firmen gefragt, die so etwas fachlich bewerkstelligen können. Siehst du das nicht ebenso?«
Schirmer drehte sich zu ihm hin, nickte bedächtig mit dem Kopf. »Verdammt! Ja, du hast Recht, Helmuth. Auch die kommunalen Genossenschaften und Träger werden in ihre vergammelten Immobilien investieren. Um diese zumindest instand zu setzen. Denk’ nur an die Unmengen von heruntergekommenen Wohnhäusern, die Schulen und Krankenhäuser. Oder die Altersheime und – nicht zuletzt die gesamte private Altbausubstanz. Alles das, was in den vergangenen Jahrzehnten hier in der DDR vergammelt ist. Weils kein Geld, vor allem aber kein Material gegeben hat!« Von seiner spontan auftretenden Begeisterung lief sein Kopf hochrot an. Und er vermochte plötzlich wieder zu lächeln.
Steincke kam vom Fenster zurück, setzte sich auf seinen Stuhl. »Interessant, Frank, was du für umfassende Kenntnisse über die Baumisere im Lande besitzt! «, knurrte er kopfschüttelnd.
Beide schwiegen eine geraume Zeit. In Gedanken versunken modellierten sie ihre berufliche Zukunft und rauchten.
Schirmer bohrte sich mit dem kleinen Finger im Ohr. Doch unversehens verschwand die aufkeimende Begeisterung aus seinem Gesicht. Die Schultern sackten ihm schlagartig herab, er kniff die Lippen zusammen.
Stirnrunzelnd schaute Steincke ihn an. »Was ist los?«
Sein Gegenüber schloss die Augen und stieß ein tiefes Seufzen aus. »Scheiße! Das klingt ja alles ganz toll, was wir uns hier so hübsch zusammenspinnen! Doch ich glaube, dass wir das Wichtigste vergessen haben!« Er riss die Augen wieder auf, legte den Kopf schräg. »Woher, bitte schön, wollen wir denn die Kohle dafür nehmen? Die Gründung einer Firma kostet – Geld. Es braucht sogar sehr viel davon, wenn man eine Baufirma aufmachen will! Von mir aus ist da nichts zu erwarten. Das musst du wissen!« Resignierend zuckte er mit den Schultern.
Steincke hob rasch die Hand. Ein schmales Lächeln huschte über sein Gesicht. »Richtig! Erst einmal fallen Vorlaufkosten fürs Material und Personal an. Dazu kommen die Mieten. Auch die notwendige Technik und einiges andere mehr kostet Geld«, ergänzte er den Einwand von Schirmer. Er beugte er sich vor, legte er ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. »Mach dich nicht fertig, Frank! Gerade warst du noch so gut drauf!« Er lehnte sich wieder zurück und breitete die Arme aus. »Ich sage dir jetzt mal, was wir tun werden. Also hör’ zu. Wir gründen eine gemeinsame Firma in der du für die Akquisition der Kunden und für die Buchhaltung
zuständig bis. Selbstverständlich auch für die Verkaufsgespräche, weil du die Leute so schön dusselig zuquatschen kannst. Bis hierher verstanden?«
Schirmer nickte