Ich bin nur normal. Manuel Wagner

Ich bin nur normal - Manuel Wagner


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Schlimmer noch: Wir hätten uns mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit selbst ausgelöscht, entweder durch irgendeine irreversible Umweltkatastrophe oder durch Kriege mit Massenvernichtungswaffen. Nach unseren Erkenntnissen steht eure Zivilisation nur etwa ein Jahrhundert vor der Selbstauslöschung durch eine dieser Katastrophen. Aber auch ihr könnt eure soziomane Gesellschaft in eine sozionormale Gesellschaft transformieren. Wenn ihr erkennt, was wir erkannt haben, dann erreicht ihr eine Form des Zusammenlebens, die euch und uns gleichermaßen glücklich machen wird. Ihr werdet uns fabelhaft integrieren können. Das, was euch außerhalb eurer aktuellen Soziomanie als Menschen ausmacht, werden wir mit Freude lernen, um dann gemeinsam Geschichte zu schreiben, um dann gemeinsam allen intelligenten, fühlenden Wesen des Universums Glückseligkeit zu bringen.

      Unsere Seelen benötigen von euch eine sichere Energieversorgung und etwas Wartung. Dass wir Zuflucht auf eurem Planeten suchen, hat einen astronomischen Grund. Wie die meisten Sterne, dehnte und dehnt sich auch die autisianische Sonne langsam aus. Unser Stern ist allerdings fast eine Milliarde Jahre älter als euer Stern. Er war damit bereits vor vielen Jahrtausenden so stark aufgebläht, dass Leben ohne künstlichen Schutz fast nicht mehr möglich war. Kaum noch konnten wir genügend große Flächen kühlen, um Landwirtschaft zu betreiben. Durch die Abwärme aus den klimatisierten Bereichen, wurde der Rest des Planeten so stark erhitzt, dass immer größere Teile nur noch aus lebloser Ödnis bestanden. Einhunderttausend Jahre bevor wir auf Autis die Grenzen des physikalisch Machbaren Überlebens erreicht hatten, wurde schweren Herzens mit den Planungen zur Umsiedlung der Autisianer begonnen. Es war unklar, wie lang die Reise dauern würde. Deshalb konnten wir nicht sicher sein, dass unsere organischen Hüllen überleben. Aus diesem Grund mussten alle Autisianer ihren Geist, ihr Ich digitalisieren und speichern. Statt in fragilen Körpern sind wir als digitale Geister auf Festplatten geflohen. Wir konnten durch diese Selbstdigitalisierung tatsächlich alle Seelen in unseren Raumschiffen unterbringen, stiegen mit ihnen auf und verfolgten als Computerwesen das Ende des intelligenten Lebens auf Autis. Der Blick zurück auf den ausgedörrten Staubball, der mal unsere Heimat war, schmerzte, aber die Aussicht einen autisähnlichen Planeten wie eure Erde zu erreichen, gab uns genug Hoffnung, um weiter zu forschen, um weiter voranzugehen. Mit unserer Technologie könnten wir die Menschheit locker auslöschen oder versklaven und euren Planeten einfach übernehmen. Wir sind jedoch als sozionormale Spezies friedfertig und wie gesagt am Glück aller intelligenten fühlenden Wesen interessiert; deshalb wollen wir uns lieber bei euch integrieren.

      Wir sind nur ein kleines Volk von einer Milliarde Individuen, das von euch ein wenig Energie braucht und einige wenige Millionen von uns wollen wieder in Körpern leben. Sie werden in Androiden zu euch kommen, die euch täuschend ähnlich sehen. So können wir uns vorerst kulturell viel besser austauschen, besser als wenn wir für euch nur digitale Datenansammlungen wären. Seid ihr erst überzeugte Sozionormale, könnt auch ihr digitalisiert werden. Wenn alles nach Plan läuft, benötigen die digitalen Menschen und die digitalen Autisianer am Ende der Entwicklung nur noch wenig Raum und quasi keine Energie. Wir arbeiten sogar an einem Speichermedium, was keinerlei Energie benötigt. Dann können Menschheit und Autisianer gemeinsam bis zum Ende des Universums existieren, aber das ist selbst für uns noch Zukunftsmusik.

      Im Moment befindet sich unser Raumschiff im Orbit eurer Erde. Meinen Geist hat man in einem fast einhundert Prozent menschlich aussehenden Androiden zu euch auf die Oberfläche geschickt. Ich hoffe, dass dieses Outing als außerirdischer Autisianer noch mehr Freude und Interesse an meinen Büchern wecken wird. Meine literarischen Ergüsse sind keine sinnlose Unterhaltungsliteratur, sondern ein Sachbuch im Bereich angewandter Gesellschaftswissenschaften inklusive fundierter Prognose zu eurer und unserer Zukunft. Ihr müsst sie lesen, um zu wissen, wie es bei euch weitergehen kann, um zu wissen, was für abgefahrene Geschichten passieren müssen, damit ihr am Ende glücklich durchs Weltall rasen könnt.

      Außerdem bin ich auf euer Geld angewiesen, weil ich als politischer Aktivist Opfer der Unterdrückung durch aktuell noch soziomane Staatsorgane auf eurem Planeten geworden bin. Es kam irgendwie nicht besonders gut an, als ich einem irdischen Beamten aufgrund seiner Unverschämtheit gerechtfertigterweise meinen Androidenspeichel ins Gesicht gespuckt habe, weil er mich zwingen wollte, einer sinnlosen, selbstzerstörerischen Erwerbsarbeit nachzugehen. Das Ganze war eine Verschwendung von Körperflüssigkeit. Helft mir dabei, nicht arbeiten zu müssen, und meine Körperflüssigkeiten weiter sinnvoll zu nutzen. Helft mir, indem ihr meine Bücher kauft.

      Vielen Dank.

      Schlafender Hund

      »Hey, wer ist das denn? Da versaut uns wohl jemand gerade unsere wertvollen Daten.«

      »Mist, die Sequenz müssen wir wohl jetzt rausschneiden.«

      Schon wieder ein Traum? Habe ich meine Leser etwa noch nicht oft genug mit Träumen belästigt oder gar gequält? Ich hoffe jedenfalls, was ich sehe, ist ein Traum, denn vor mir hängt Hündchen gerade in einer Art Zahnarztstuhl an irgendwelchen Geräten und Schläuchen, krank, müde, mit den dunkelsten Augenringen, die ich jemals gesehen habe, aber immerhin lebendig. Habe ich damals im Krankenhaus auch so unzumutbar ausgesehen? Wieso wischt ihm keiner den Sabber aus dem Gesicht? Schlimm, dass ich gerade daran denke, dass Hündchen unsexy aussieht und ich damals wohl ebenfalls für Hündchen derart unsexy aussah. Wieso habe ich solche verstörenden Gedanken zu den unmöglichsten Zeiten? Ich habe früher gerne geleugnet, dass ich ein Mensch bin, ein Mensch mit all diesen verwirrenden Gefühlen und Bedürfnissen. Aber genau das bin ich: Ein Mensch.

      Ich muss meinen Blick abwenden und bleibe starr stehen, bis mich schließlich eine Hand von hinten an der Schulter packt. Ich werde unsanft aus dem Raum geführt, stolpere fast über meine eigenen Füße und muss mich darauf konzentrieren, dass ich nicht hinfalle. Entsetzt stelle ich fest, ich konnte keinen Augenblick erkennen, ob Hündchen auf mich in irgendeiner Form reagiert hat. Kann Hündchen überhaupt noch auf mich reagieren? Die Tür wird abgeschlossen und ich sehe weder die Hand noch die Person, die mich rausgeführt hat. Keine Erklärung. Keine Aufforderung zu warten. Nichts. Niemand ist da, um mit mir zu sprechen.

      Ich brülle: »Was ist hier los? Was habt ihr mit meinem Hündchen gemacht?«

      Niemand reagiert auf mich. Niemand hört mich. Niemand hat Zeit für mich. Alle hier scheinen beschäftigt zu sein. Ich bin anscheinend nur eine kurze Unterbrechung gewesen, die man schnell und unkompliziert wegmacht, wie nervige, ungebetene Werbung vor einem Internetvideo. Deren Problem hat sich erledigt. Mit Problemen muss man nicht sprechen. Man schweigt sie an und schubst sie einfach raus, so dass sie fast auf die Fresse fallen. Ich will an die Tür hämmern. Nein, ich will sie aufbrechen. Nein, ich will einfach nur schreien. Halt! Stopp!

      Ich versuche mich zu beruhigen. Die Forscher können wahrscheinlich nichts dafür. Hündchen hat die Behandlung freiwillig an sich machen lassen. Hündchen wird trotz aller Risiken darauf bestanden haben, weil es womöglich von den Forschern getäuscht wurde. Ich spüre drückende Schmerzen in der Brust. Ich muss hier raus. Hündchen ist jetzt anders. Jeder weitere Anblick, jeder weitere Gedanke führt zu einem neuen Trauma. Ich fühle mich jetzt schon wie niedergestochen. Nur diesmal ist es nicht mein Bauch, sondern mein Herz. Noch weitere Gedanken oder ein erneuter Anblick Hündchens in diesem elenden Zustand werden ein weiterer Stoß in mein Herz sein. Ich will nicht wieder in alte Muster zurückfallen. Ich wusste es. Menschen verletzen einen immer irgendwann. Wenn sie einen nicht direkt verletzen, dann wenigstens indirekt, wie Hündchen mit der dummen Entscheidung, sich behandeln zu lassen, obwohl es wusste, dass die Hirnoperation gefährlich ist, obwohl es wusste, dass meine Gefühle... Moment, meine Gedanken sind gerade widersprüchlich. Oder sind sie klar die Wahrheit? Aua! Mein Kopf!

      Nachdem ich aus dem Forschungszentrum hinausgestolpert bin, bleibe ich vor der Eingangstür stehen, nicht weil ich umdrehen will. Nein, die Gedanken, die nicht verschwinden wollen, bohren sich von meinem Kopf nach unten in meine Brust. Ich atme schwer. Hirn! Hör auf! Grüble nicht, sondern träume! Träume von der Welt, in der du dich jetzt befindest. Sie ist gut. Sie ist lebenswert. Siehe was du … nein! Nicht Hündchen! Hündchen existiert nicht … nicht mehr. Hündchen hat NIE existiert … war immer nur dein Trugbild. Schluss damit Hirn! Siehe was DU, also ICH geschaffen habe. Erfreue dich daran. Los! Erfreue dich daran! Ich öffne die


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