Ich bin nur normal. Manuel Wagner

Ich bin nur normal - Manuel Wagner


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Hause angekommen, logge ich mich in die A.I.D. ein und unterbreite einen Verbesserungsvorschlag für lonely Spot: Die A.I.D. möge beschließen, dass lonely Spot den Benutzer deutlich warnt, wenn er einen Bereich betritt, für den er sich nicht angemeldet hat, sollte der Bereich bereits durch eine Buchung vergeben worden sein.

      Sich betrinken

      Auf dem Weg in meine Lieblingsbar komme ich an ein paar seltsamen Graffiti vorbei: An mindestens drei Laternenpfählen und einem Brückenpfeiler habe ich die Umrisse eines Wolfskopfes gesehen. Während ich noch darüber nachdenke, bin ich mir nicht sicher, ob mir mein Unterbewusstsein vielleicht einen Streich spielt, indem es meine Albträume in die Realität projiziert. Vielleicht bin ich wegen der Gedanken an Hündchen einfach zu stark gestresst. In der Bar angekommen, versuche ich die Sorgen zu ertränken.

      »Ich bin traurig. Geben Sie mir bitte das Härteste, was Sie haben.« Wahnsinn. Ich bin so verstört, dass ich alleine und ohne irgendwelche Hilfsmittel wie Notizzettel eine Bestellung aufgeben kann. Ich habe den Barkeeper sogar dabei angesehen, also nicht wirklich, denn eigentlich habe ich nur seine Umrisse angesehen. Das liegt an der Burka, die er gerade trägt. Es fällt vieles leichter, seit die Burka in Mode gekommen ist. Da bleibt euch wohl die Spucke im Hals stecken. Der Typ trägt eine Burka? Ist das passiert, wovor viele Spinner immer Angst hatten? Hat der fundamentalistische Islam tatsächlich die Welt erobert? Nein, natürlich nicht! Aber die Kultur, die dieses Kleidungsstück hervorgebracht hat, ist stolz und dankbar für seine Verbreitung, genauso wie jeder vernünftige Mensch dankbar ist, dass eine Kultur so ein wunderbares Outfit erfunden hat. Der ursprünglich assoziierte Zweck ist mit der neuerlichen Nutzung als Werkzeug zur Selbstbestimmung quasi ad absurdum geführt. Dieses Kleidungsstück ist wirklich toll und das völlig unabhängig vom Geschlecht der Person, die es trägt. Die ursprüngliche Burka war etwas unvorteilhaft, aber begabte Modedesigner haben ein praktisches Kleidungsstück für Sozionormale daraus gemacht. Die Burka hat einige Vorteile: Jeder kann draußen anonym bleiben und ist vor der zerstörerischen Wirkung der Sonne geschützt. Der Funktionsstoff bewahrt vor Kälte und vor Hitze. Durch geschickt verteilte Polster, weite oder enge Schnitte kann man nach außen eher eine schlanke oder eine rundliche Gestalt darstellen, ganz nach Belieben. Klar, dass es Burkas in allen Farben und Mustern gibt. Der Fantasie bei der Gestaltung sind keine Grenzen gesetzt. Die Größe des Sichtfensters lässt sich dank mehrerer Reißverschlüsse verändern, je nachdem wie viel man vom Gesicht preisgeben will. Woher weiß ich dann eigentlich, dass der Barkeeper ein Typ ist? Ich rate nur, denn ich habe die Stimme gehört. Natürlich könnten es auch eine Sie, ein Genderfluid oder drei übereinander stehende Kleinkinder sein, die einen Stimmenmodulator benutzen. Es ist ja auch egal, ob der Barkeeper biologisch auch ein Mann ist oder nicht. Durch das Auftreten scheint er sehr wahrscheinlich einen Mann darstellen zu wollen. Das akzeptiere ich, und bezeichne ihn für mich als Typ. Dieser Typ ist wahrscheinlich auch sozionormal, denn seine Reaktionen und seine Optik wirkten auf mich merkwürdig oder besser gesagt den Umständen entsprechend völlig normal, nur für soziomane Menschen wären sie natürlich ungewohnt. Da ich dieses Buch an Soziomane richte, bin ich nun einmal gezwungen wiederholt überholte und absurde Denkmuster zu verwenden. Wäre sonst recht schwierig für euch zu verstehen, was ich meine.

      »Den härtesten Drink? Ich verstehe nicht ganz.«

      »Ich möchte mich bestrafen, ich möchte mir Leid zufügen. Ein anderer macht es doch nicht. Mix mir einen Drink, der mich bestraft oder wenigstens betäubt.« Ich bin mehr als mutig und schenke dem Barkeeper einen finsteren Blick, weil er mich gefälligst verstehen soll. Er soll mir gehorchen, wie Hündchen mir sonst immer gehorcht hat.

      »Ich glaube, dass ich weiß, was du meinst, aber verklag mich nachher nicht.« Der Barkeeper klingt dabei amüsiert und kein bisschen beleidigt. Seine Arbeit ist wahrscheinlich stressärmer und gleichzeitig langweiliger geworden, seit er fast nur noch logisch handelnde Sozionormale bedient.

      Als ich kurz vom Tresen aufsehe, kann ich hinter dem Fenster der Burka tatsächlich ein Lächeln wahrnehmen. Was wird er mir schon mixen? Einen starken Drink mit ein bisschen Spucke? Ach ne, er ist ja nicht beleidigt. Ich bin ja für ihn eine unterhaltsame Ablenkung. Also gehe ich davon aus, dass Spucke keine der Zutaten sein wird.

      Nach einigen Augenblicken des Mixens und Schüttelns steht ein orangefarbener Drink vor mir.

      Keine Ahnung was da drin ist, aber als ich mich sofort darauf stürzen will, meldet sich der Barkeeper: »Vorsichtig trinken. Ok?« Er klingt aufrichtig besorgt. Unterstrichen wird seine Sorge durch eine Berührung mit seiner erstaunlich kindlichen Hand auf meinem Arm, was ebenfalls voll ok ist, weil es ohnehin kaum noch Krankheitserreger gibt. Endlich wieder jemand, der meinen Befehlen gehorcht. Wozu brauche ich Hündchen, wenn ich wildfremde Menschen nach meiner Pfeife tanzen lassen kann?

      Aber was soll denn so schlimm an dem Drink sein? Immerhin befinde ich mich hier in einer Vital-Smoothie-Bar. Ich packe das Glas und führe es zum Mund. Ich rieche daran und erahne die Zutaten. Clever. Genau das, was ich brauche. Ich nehme einen großen Schluck und spüre nach kurzer Zeit einen brennenden Schmerz. Die Feuer von Ingwer, Pfeffer, Chili und Zitrone breiten sich von meiner Zunge über den Gaumen durch den Rachen bis in den Magen aus. Wie gut dieser Schmerz tut. Ich zucke zusammen, ringe nach Luft.

      Kann ich es damit wiedergutmachen?

      Der Barkeeper wendet sich mir zu: »Was ist los?«

      Intelligente auf den Punkt gebrachte Empathie ist eine Stärke von Sozionormalen. Er versteht mich, auch wenn ich sage: »Ich möchte nicht darüber reden, ich muss meine Gefühle ordnen.« Ich habe Angst, dass ich mich diesem Fremden doch noch anvertrauen werde und wechsle das Thema. »Egal. Glückwunsch, dass du bald mit deiner Arbeit aufhören kannst.«

      Unter der glitzernden Burka nehme ich nun eine überraschte Reaktion wahr.

      »Du bist schon der Vierte, der das heute zu mir sagt. Ich freue mich auch, dass ich bald durch einen Roboter ersetzt werde. Mir genügt das Grundeinkommen und ich kann mich um meine wahren Leidenschaften kümmern, aber ein paar Monate muss ich diese Lohnsklaverei noch ertragen.«

      Ich lächle ihn an. Ich freue mich für ihn. Dennoch hat sich diese Empathie nicht zu einem Trost für meine Gefühle entwickelt. Ich trinke noch einen kräftigen Schluck, um mich zu betäuben. Ich glaube, dass ich bereits sehr rot bin. Mir ist heiß, ich schwitze, ich atme schwer. Ein weiterer kräftiger Schluck.

      »Alles in Ordnung? Ich habe doch gesagt: Vorsichtig trinken, du Blitzbirne!«

      Das Glas ist fast leer. Ich keuche. Der Schmerz im Rachen ist schwer auszuhalten. Mir wird schwarz vor Augen. Kurz vor der Ohnmacht meine ich, zwei Kleinkinder unter der Burka hervortreten zu sehen. Ein paar sehr große junge Augen starren mich entsetzt durch den Seeschlitz des Kleidungsstücks an. Verdammt! Kleinkinder als Barkeeper unter einer Burka? Was war in dem Drink?

      Als ich wieder aufwache, kümmert sich bereits ein Arzt um mich. »Sehr schön, die Blitzbirne ist wieder bei uns. Sie hätten das langsamer oder besser noch überhaupt nicht trinken sollen.«

      Ich bin sofort hellwach und sehe den Arzt mit aufgerissenen Augen an: »Doch das musste ich trinken. Habe ich jetzt alles wiedergutgemacht? Darf ich jetzt endlich leben? Nicht? Oder?«

      Der Arzt entgegnet stutzig: »Ich untersuche sie besser noch mit dem Multidoc.«

      Nach einem kurzen Scan mit dem smartphoneähnlichen Diagnosegerät des Mediziners und ein paar Fragen darf ich nach Hause gehen. Ich liebe die neuen Verfahren. Kaum jemand muss heutzutage noch ins Krankenhaus.

      »Silexa, rufe mir ein A.S.T.!« Eine halbe Minute später öffnet sich vor mir mit sanftem Surren eine Flügeltür. Ich sinke in den bequemen Sitz. »Nach Hause, bitte!« Erst surrt es, dann klackt es. Die Tür ist zu.

      »Die voraussichtliche Fahrzeit beträgt 18 Minuten. Welche Landschaft möchtest du währenddessen sehen?«

      Oh, das System hat sich gemerkt, ich will geduzt werden. »Die Milchstraße.« Während meiner Fahrt nach Hause ziehen Dunkelheit und glitzernde Sterne an den Fenstern des A.S.T. vorbei. Ganz ohne Fahrer und ohne andere Menschen


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