Ich bin nur normal. Manuel Wagner

Ich bin nur normal - Manuel Wagner


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sich mit diesem vitalisierendem Trost.

      Ich fühle beschichtetes Papier in meiner Hand. Woher kommt das? Ich führe meine Hand in Richtung meiner Augen, damit ich das Papier näher betrachten kann. Es ist eine Broschüre: »BESCHEUERT??? Werde jetzt ganz einfach normal!«, steht dort in großen Buchstaben. Wann ist mir die denn in die Hände geraten? Was für ein Albtraum. Ich kann mich nicht erinnern, bin verwirrt. Was ist mir wohl noch alles entgangen? Ich blättere die Broschüre durch, ohne sie wirklich zu lesen. Mein Blick ist starr. Ich gehe weiter und werfe sie in den Mülleimer.

      Modern unterwegs

      Die Broschüre wäre auch nicht hilfreich gewesen, nicht für Hündchen, nicht für mich, nur für alle anderen. Trotzdem brauche ich jetzt etwas, womit ich mich beschäftigen kann. Wieso habe ich mir kein Buch mitgenommen und warum habe ich mein Nanophone vergessen? Ich Schussel! Zu gern, hätte ich irgendetwas gehabt, was mich von dem ablenkt, was ich glaube, gerade gesehen zu haben.

      Ein »Rattarattaratta...«, »Brumbrummbrrrummm...« oder »Tacktacktack...« würde mir genügen, damit ich verdrängen kann, worum meine Gedanken kreisen, aber dieses neue öffentliche Verkehrsmittel ist bedauerlicherweise unglaublich leise. Die Einzigen, die ohrenbetäubend laut schreien, bleiben meine Gedanken. Sie sind weiterhin laut, aber sie haben sich verändert. Ich versuche verzweifelt, die letzte Erinnerung an Hündchen zu löschen, denn sie stört und verzerrt alle anderen Erinnerungen, die ich an Hündchen habe. Doch es bringt nichts.

      Der fahrerlose Straßenzweisitzer A.S.T. – Automatic Slim Taxi, das beliebte neue öffentliche Verkehrsmittel, tut mir nicht den Gefallen, laut zu sein, damit ich endlich mit dem quälenden Grübeln aufhören kann, welches schon so viele Wissenschaftler als krankmachend beschrieben haben. Vielleicht hätte ich nostalgisch sein sollen und hätte auch für den Heimweg besser den antiquierten Bus mit den Soziomanen benutzt. A.S.T. und Bus zeitgleich gibt es nur noch zwei Monate, denn dann tritt das neue pPNV-Gesetz in Kraft, womit der private Personennahverkehr kostenlos wird. Tausende neu gefertigte A.S.T.s stehen kurz vor der Auslieferung, niemand braucht dann noch ein stickiges Massengefährt. Auf dem Hinweg im Bus hatte ich mir noch ein A.S.T. gewünscht, aber ich war zu aufgebracht, konnte nicht klar denken, bin einfach los, als lebte ich noch in der Vergangenheit. Diese Entscheidung hatte mich viel Zeit und noch mehr Nerven gekostet. Was für ein düsterer Anachronismus war es doch, mit all den schmutzigen, lauten Gestalten in einer klappernden Blechdose zu einem Haltepunkt gebracht zu werden, an dem sich dann nicht nur noch größere Menschenmengen befinden, sondern der außerdem noch hunderte Meter vom eigentlichen Ziel entfernt ist. Vielleicht war es unterbewusste Nostalgie, die mich vorhin in den Bus gelockt hatte, vielleicht waren es liebgewonnene Erinnerungen an den Tag, als mich Hündchen von der Bushaltestelle in unser Café rettete.

      Doch plötzlich kommt mir ein Gedanke. Er mag eigentlich bescheuert sein, aber er spendet unglaublich viel Trost. Trost, den ich brauche, denn sonst übernimmt die Traurigkeit mein komplettes Ich. Trost, den die neue immer frischer werdende Luft nicht ausreichend spenden kann. Wenn etwas Neues und Schönes lebendig wird, dann muss etwas Altes geopfert werden. Dies muss eine Art Naturgesetz sein, welches man ohne Wehmut hinnehmen muss, weil es nun mal so ist und nicht verändert werden kann. Dinge ändern wollen, die man per Naturgesetz nicht ändern kann, macht unglücklich; deshalb sollte man es lassen. Diese merkwürdige Erkenntnis bewirkt eine völlige Katharsis meiner Gedanken:

      Erstens: Hündchen musste sterben. Es war notwendig.

      Zweitens: Guck dir an, was Hündchen und zwar Hündchen allein für eine Welt erschaffen hat. Wenn Hündchen die Raupe war, ist diese Welt jetzt Hündchen als Schmetterling.

      Drittens: Ich kann lieben, konnte lieben, nur leider ist ein gebrochenes Herz viel schlimmer als Herzlosigkeit.

      Und viertens: Zweitens ist falsch, denn ich habe und nicht Hündchen hat diese Welt erschaffen. Hündchen war streng genommen nur mein Werkzeug.

      Ich habe die Raupe genommen, sie in einen Kokon gesponnen und sie dadurch gezwungen zum Schmetterling zu werden.

      »Wollen Sie rausgucken? Es sind keine Menschen in Sichtweite.«

      »A.S.T., bitte duze mich.«

      »Willst du rausgucken? Es sind...«

      »Schon klar, nein. Zeige mir endlose leere Wüste.«

      Keine Ahnung, ob A.S.T. diese Funktion hat, aber tatsächlich wird eine endlose Wüste an den Innenwänden gezeigt. Genau so fühle ich mich im Inneren: leer und leblos. Die Technik ist erstaunlich. Man kann nicht reingucken und das Rausgucken ist optional. Stattdessen kann man sich menschenleere Umgebungen zeigen lassen. Der eingebaute Computer versteht mich so gut, dass er quasi keine Fehler macht. Wieso war so etwas nicht schon in der soziomanen Welt möglich?

      Auch wenn die Wüstenlandschaft entspannend ist, schießt mir wieder dieser eine Gedanke durch den Kopf. Ich habe Hündchen getötet. Ach nein, ich habe es verwandelt, stelle ich für mich erneut klar. Die leere Wüste ist jetzt deine Welt. Alle anderen bedeuten dir nichts! Egal, ob normal oder sozioman! Diese Welt bedeutet dir nichts! Ich versuche mich abzulenken und betrachte den Navigationsbildschirm vor mir. Ich sehe, dass ich bald zu Hause bin. Bald gehe ich wandern. Könnte ich aus Hündchens Fell nicht einen schönen Rucksack dafür machen? Wieso falle ich wieder in die alten Gedankenmuster zurück? Damit ich mich nicht irgendwann wieder in einen Menschen verliebe? Wollte ich nicht ursprünglich lustige und fröhliche Bücher schreiben und wieso gehe ich alleine wandern? Weil es mich an den Urlaub mit Hündchen erinnert? Hündchen hatte kein Fell aus dem ich einen Rucksack machen könnte.

      Wandern

      Und die Menschen verbessern sich doch: Ich wandere gedankenverloren durch einen örtlichen Wald, erfreue mich an den sanften Klängen der Natur. Neben mir das Wässerchen eines Baches, über mir ein Konzert verschiedener Vögel. Ich wäre gerne ein Ornithologe, dann könnte ich die Vögel benennen und ihre Stimmen mit malerischen Vokabeln umschreiben. Nun kann ich nur sagen, dass es in diesem Moment einfach schön ist. Das muss euch genügen. Der warme Wind ist angenehm wie ein sanfter Fön. Er lässt die Blätter rauschend in das Naturkonzert einstimmen. Nicht zuletzt fügt sich in das biodiverse Geräuschpotpourri des Waldes wortgewaltig eine laut dröhnende Motorsäge ein. Herrlich!

      Plötzlich ertönt eine Stimme: »Hey Arschloch! Hast du keine App?«

      Ich blicke um mich herum und da sehe ich sie direkt vor mir. Es ist eine andere Person, sie trägt eine Outdoorjacke, eine Outdoorhose, Wanderschuhe und eine Sonnenbrille, die sie gerade abnimmt, um mich wütend anzustarren.

      Nach dem sie sich meiner Aufmerksamkeit vergewissert hat, spricht sie weiter: »Ich habe extra diesen lonely Spot zum Wandern gebucht und nun muss ich deine Hackfresse sehen.«

      Sie hat recht. Ich dürfte gar nicht hier sein. Wie konnte ich nur so gedankenverloren handeln? Wer wandern will, muss sich anmelden. Eigentlich ist das schon eine ganze Weile so, aber benebelt von Gefühlen aus der Vergangenheit, handle ich, als lebte ich noch in dieser unrühmlichen alten Zeit, in der sich die Menschen rücksichtslos anderen Menschen aufdrängten. Rücksicht ist Pflicht. Das ist doch selbstverständlich. Ich gehe weiter auf den Wanderer zu. Ich hebe meine Arme. Dabei bilden sich Tränen in meinen glasigen Augen. Perplex lässt der Wanderer die Handlung über sich ergehen. Wie ein abgestorbener halbabgebrochener Baum steht er da.

      Ich nehme ihn in den Arm, drücke ihn fest an mich. Ich flüstere ihm fast schon erotisch ins Ohr. »Danke! Einfach nur danke, dass du mich angeschnauzt hast. Noch nie hat mich ein Mensch so gerechtfertigt angeschnauzt wie du. Bis heute war es jedes mal bescheuert und krank und du bist der erste Mensch, der Anschnauzen vernünftig an mir angewendet hat. Ich danke dir. Du hast mir die Augen geöffnet. Es gibt so viele von uns.« Ich schluchze, drücke ihn fester an mich »...nun endlich so viele von uns.«

      Keine Reaktion meines Gegenübers.

      »Beschimpfe mich weiter, bitte...« Als der Wanderer unerwartet die Umarmung doch noch erwidert, blicke ich ihm tränenverschmiert ins Gesicht, welches noch immer verblüfft, aber nun


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