Going Underground. Martin Murpott
Als Line 666-5 die Idlhofgasse erreichte, war es auch im Jenseits bereits Dunkel geworden. Es musste so gegen 22:00 Uhr sein. Robert war nicht aufgefallen, dass es so etwas wie eine Dämmerung gegeben hatte - auch nicht, dass irgendwann die Straßenlaternen angegangen wären, die draußen in unregelmäßigen Abständen die Straßen ausreichend erhellten. Er stieg aus der Bim, blickte sich um und plötzlich war es einfach so, wie es war. >>Wäre ja auch beschissen, wenn es immer nur hell wäre und man überhaupt kein Tag- und Nachtgefühl hätte<<, sagte Esther, die schon wieder seine Gedanken zu erraten schien.
>>Komm, ich zeig dir deine Wohnung. Du hast Glück, das dazugehörige Gebäude steht auf der gleichen Straßenseite.<<
Die Idlhofgasse war hauptsächlich mit Wohnhochhäusern zugepflastert und wirkte recht eintönig. Manche der hohen grauen Stadtarchitekturverbrechen hatten kleine Läden oder Bars im Erdgeschoss. So auch Hausnummer 1045, in deren Hauseingang Esther ihn hineinführte. Sollte sich Esther nicht dazu überreden lassen, ihm auch zu zeigen, wie man als toter Sex hatte, konnte er zumindest noch auf ein paar Getränke gehen. Roberts Wohnung lag im fünfundzwanzigsten Stock und er hoffte innbrünstig, dass nie der Lift ausfallen würde. Esther war immer noch dabei.
>>Nach dir<<, sagte sie und zeigte auf die versperrte Wohnungstür.
Robert sperrte auf, ging hinein und drehte das Licht auf. Er fand eine Zweizimmerwohnung vor, die zwar eingerichtet war, aber das dafür im kitschigsten 1960er-Style, den er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Die immer noch dreitagesbebartete Kauleiste hing ihm diesmal bis zum Bauchnabel hinunter: Sogar ein riesiges Peace-Zeichen war an die Zimmerwand der Wohnküche gepinselt. Couch gab es keine, dafür Lavalampen, Sitzpolster, indische Tücher, die als Vorhänge dienten, und sogar einen kleinen Fernseher. Robert ging ins angrenzende Schlafzimmer und es wurde optisch nicht besser. Statt einem Bett gab es eine Schlafmatte, daneben lag ein mit Blumen verziertes Schnurlostelefon. Die ganze verdammte Bude stank nebenbei nach Räucherstäbchen und fast hätte er deswegen gekotzt. In der Wohnküche stand immer noch Esther und musste vor lachen fast weinen.
>>Lass mich raten: Du hast gewusst, wie die Wohnung aussieht, oder?<<
Esther konnte sich vor lachen noch immer kaum halten.
>Ja, ich hab die gleiche bekommen, als ich neu war. Ich bin deswegen mit rauf, um dein Gesicht sehen zu können.<<
Langsam bewegte sich Robert wieder auf Esther zu und blieb knapp vor ihr stehen.
>>Kann es sein, dass du auch noch wegen etwas anderem mit hoch gekommen bist?<< , fragte er Esther, die sich inzwischen wieder gefangen hatte.
>>Das ist durchaus möglich Cowboy, denkst du da an was Bestimmtes?<<
Esther war nach seiner räumlichen Annäherung nicht zurück gewichen und sah ihn mit einem Blick an, der wohl am besten unter die Kategorie "freches verliebtes Schulmädchen" einzuordnen war. Robert fuhr mit seiner Hand hinter ihren Rücken, zog sie zu sich heran und versuchte sie zu küssen. Bei diesem Versuch blieb es dann allerdings auch, denn der Schmerz ihres ruckhaft nach oben gezogenen Knies unterband jegliche romantische Fortsetzung des Geschehens. Seine sich verkrampfenden Weichteile in den Händen haltend ging er vor Esther zu Boden.
>>Was glaubst du eigentlich wer du bist, Cowboy? Du kennst mich gerade einen halben Tag und denkst, du darfst mich flachlegen?<<
Sie erwartete sich erst gar keine Antwort, vor allem auch deswegen, weil Robert zu einer selbigen noch gar nicht fähig gewesen wäre.
>>Ich hol dich morgen am frühen Vormittag hier ab, schau dass du einigermaßen fit bist. Schönen Abend noch, A r b e i t s k o l l e g e!<<
Esther drehte sich um, verließ die Wohnung und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
13
Der Meister saß im Wintergarten seiner gutbürgerlichen Villa in Graz-Skulldorf, fernab von dem ganzen innenstädtischen Dreck, den heruntergekommenen Gebäuden und der Hektik des toten Stadtzentrums. Hier war man unter sich und was sprach dagegen, dass es auch im Jenseits eine Zweiklassengesellschaft gab. Schließlich konnte doch keiner von ihm verlangen, dass er sich mit irgendwelchem Pöbel abgab, der das Mittagsbuffet beim Taiwanesen um die Ecke für das höchste aller kulinarischen Gefühle hielt. Während der Meister auf seine Morgenmahlzeit wartete, betrachtete er die Quercus Germanicus, die in seinem Garten stand und zwischen ihren grünroten Blättern schwarze Eicheln zum Erblühen brachte. Es war Mittwochmorgen und seine ursprünglich aus Shanghai stammende Ehefrau Ding Ling Ming stand in der Küche und bereitete ihm sein Frühstücksei zu. Brunhilde, seine ewig nörgelnde erste Ehefrau wollte auch die Ewigkeit mit ihm verbringen, nachdem sie wenige Jahre nach ihm den silbernen Löffel abgegeben hatte. Im Leben hatte er es aufgrund seiner kirchlich-religiösen Überzeugungen nie gewagt, sich scheiden zu lassen, aber dies hatte der Tod - wie manch Anderes - schließlich von ganz alleine erledigt. Brunhilde nahm dem Meister bis heute übel, dass er sie abwies, aber er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass sie ihm bis zum Sankt Nimmerleinstag die Leviten lesen würde, wenn er wieder Geschirr stehen ließ oder den Müll nicht raus trug. Er hatte ihr nie beibringen können, was Frauenarbeit bedeutete und was eben nicht. Jahrzehnte später hatte er in einer chinesischen Wäscherei in Gries-Nord, in der er sich oftmals zu konspirativen Treffen mit seinen Spitzeln traf, Ding Ling Ming kennengelernt. Sie war eine Perle.
Der Baum, er war so mächtig und stark. Bald würde auch er stark und mächtig sein. Noch stärker und mächtiger als er es ohnehin schon war. Des Meisters Blick glitt ins Leere ab, vor seinem geistigen Auge malte er sich die Zukunft aus. Eine Zukunft, in der nicht mehr er der Weisungsgebundene sein werden würde. Eher sah er eine Zukunft vor sich, in der er selbst der Weisungsgeber war und zwar uneingeschränkt und ohne Kompromisse. Auch wenn Nummer Vierzehn den Hang dazu hatte, immer zu spät zu kommen, schenkte er ihr doch sein Vertrauen. Sie würde das diesseitige Artefakt finden und es in ihren Besitz bringen. Bevor er selbst die Nummer Eins und somit Meister des Geheimbundes der Robenträger geworden war, war der GDR ein unmotivierter Sauhaufen, der sich hauptsächlich der Ritualpflege widmete. Unzählige Abende verbrachte er inkognito in den dunkelsten Archiven der Grazer Stadtbibliothek, bis er endlich fand, was er suchte. Die auf Pergament verfasste Formel zur Durchführung des Rituals dann eines nachts zu stehlen, war angesichts des schlecht bewachten Gebäudes kein wirkliches Problem. Doch als er sie dem damaligen Meister präsentierte, war dieser eher entsetzt als erfreut. Dieses schwanzlose Weichei! In der fast 500 jährigen Geschichte des GDR war man noch nie so nahe dran gewesen, Tote längerfristig ins Reich der Lebenden zurück schicken zu können und somit eine Zusammenführung der Artefakte in Angriff zu nehmen. Aber was machte dieser Pausenclown von damaliger Nummer Eins? Er beklagte sich darüber, dass man doch kein Stadteigentum stehlen dürfe, und schwadronierte davon, dass es vielleicht doch nicht so geschickt wäre, über uneingeschränkte Macht in beiden Welten zu verfügen. Auch sei der GDR ja eher eine Art Freizeitverein und keine wirkliche Clique von Verschwörern. Udo Micha Sommer-Proksch, du blöder kleiner Hosenscheisser! Zwei Tage später hatte der damalige Meister äußerst kompromittierende Schwarzweiß-Fotos auf seinem Schreibtisch liegen, die ihn an Bord seiner am Thalersee gelegenen Yacht zeigten. Auch mit viel Fantasie hätte Sommer-Proksch nicht erklären können, warum er einerseits auf seiner siebzig Meter Yacht Schafe hielt und andererseits selbige völlig nackt von hinten penetrierte. Den Fotos beigelegt war ein in Normschrift verfasster Brief, der ihm nahe legte, die GDR zu verlassen und Platz für einen neuen Meister zu machen. Nummer Eins musste grinsen, als er sich an Sommer-Proksch Gesicht während der Übergabezeremonie erinnerte. Wären die Fotos veröffentlicht worden, hätte das nicht nur das Ende der politischen Karriere von Udo Micha bedeutet, sondern auch von dessen Mutter Susanna, die damals noch im Ministerium für Stadtinneres saß. Das Ganze muss so Anfang 1976 gewesen sein. Ein Jahr später ging Sommer-Proksch Karriere auch ohne die kompromittierenden Fotos zu Ende, als seine besagte Yacht, die Coluna, in den größten Versicherungsbetrug der jenseitigen Grazer Neuzeit verwickelt war. Danach folgten magere Jahre,