SAVANT - Flucht aus Niger -. Michael Nolden
weiß ich.« Ein theatralischer Seufzer leitet den Schlussakkord ein. »Es geht einzig und allein um personelle Probleme. Es hat Vorfälle gegeben. Vorfälle, die es notwendig machen, im Sinne der Konzernpolitik, Maged Leroux auszutauschen. Paris hat mich zum Aufräumen geschickt.« Der Franzose gibt vor, nach den passenden nächsten Worten zu suchen. »Es fehlt nicht mehr viel, um die Tuareg verdammt wütend zu machen.«
»Du brauchst keinen Buhmann in den Ring zu schicken! Ich weiß, dass die Tuareg an den Gewinnen beteiligt werden wollen. Ihr speist sie mit einem Taschengeld ab.« Ich rücke meine Aufgaben im Geist zurecht. »Das ist eure Angelegenheit. Bertrand, es wird auf jeden Fall eine offizielle Untersuchung geben, egal, wie eure interne Situation aussieht. Leroux ist der UNEP völlig schnuppe.«
Irgendwo hinzukommen, wo man vorher noch nicht gewesen ist, und trotzdem mögen einen die Leute nicht, war und ist für mich ein merkwürdiges Gefühl. Bei der Entwicklung war das anders. Da brachten wir Geld mit. Bei der UNEP machen wir den Konzernen unnötige Schwierigkeiten. So jemand ist nie beliebt. Sie bohren nach Öl, bauen Autos oder baggern nach Uran. Möglichst wenige Sicherheitsvorkehrungen, möglichst wenige Kosten, Entschädigungen schon gar keine. Das United Nations Environment Programme nimmt ihre Machenschaften unter die Lupe, listet sie auf, macht sie öffentlich, international einsehbar.
Bertrand und ich sehen uns an. Er weiß das alles. Und schämt sich wahrscheinlich kein Stück dafür. Ich begreife ihn nicht. Einiger Schaden, der in der Natur und an den Menschen angerichtet wurde, ist kaum wieder gutzumachen. Nicht zu unseren Lebzeiten.
Kapitel 2: Nächtliche Aktivitäten
[Nathalie Pagnol]
Ich horche in die Dunkelheit. Es bleibt ruhig. Das mir bekannte Geräusch kehrt nicht zurück. Eine kleine Lampe spendet nach einem zigmal vorgenommenen Handgriff ein tröstliches Licht. Immer noch stürzt sich niemand auf mich, und ich gebe mein tapferes Lauschen auf. Erleichtert setze ich mich im Büro auf einen alten Stuhl und nehme eine Pinzette zur Hand. Wenn wir etwas im Übermaß besitzen, sind es Pinzetten, die überall im Haus verteilt sind. Ich entledige mich der pieksenden Widerhaken in der Haut und kaue vor Müdigkeit meine Unterlippe mürbe. Es dauert mehrere Minuten, bis ich sicher bin, jeden der Quälgeister erwischt zu haben. Erleichtert suche ich die Kaffeedose und koche zwei Tassen. 1:47 Uhr. Die Zahlen leuchten mir von einem kleinen Wecker entgegen, ein Überbleibsel eines seltenen Arztbesuches. Der Mediziner brachte ihn bei einem durch europäische Spendengelder finanzierten Gesundheits-Check-up der Kinder mit. Der Herd, ein unüblicher Gegenstand in einem Büro, tickt von der Hitze im Sekundentakt. Wind lässt den Sand über die Lehmwände und das Wellblechdach nebenan prasseln. Auf den Holztüren vermeine ich zeitweilig jedes einzelne Sandkorn auftreffen zu hören.
Ich schalte den Computer ein, stelle die Satellitenverbindung zum Internet her und rufe meine E-Mails ab. Zuoberst in der Liste, die ich seit Tagen nicht mehr abgerufen habe, ist eine Nachricht meiner Eltern. Sie ist mit »Vaters Geburtstag« betitelt. Ich weiß, was meine Mutter will. Das, was sie jedes Jahr will, und aus dem ich mich mit Ausreden stets herauswinde: Nach Boston kommen, wo sie sich zur Ruhe gesetzt haben. Nur zur Feier, schreibt meine Mutter jedes Mal.
Die Liste wird länger. In der Mitte finde ich eine Mitteilung eines Freundes aus Niamey, Nigers Hauptstadt. Sie trägt die Betreffzeile »Leroux sucht dich«. Hinter die drei Worte wurden drei Ausrufezeichen gesetzt.
»Nathalie«, schreibt mir Benoît Moussa, »ich hatte heute eine Anfrage von unseren Freunden von ARTAUD. Man würde sich gerne mit dir in Verbindung setzen. Man wolle eine Ansprechpartnerin beim UNFPA vor Ort zwecks einiger Spendenvorhaben. Offenbar hat deine Dienststelle keine Daten herausgegeben. Ich habe nicht nachgeforscht, da ich keine unerwünschten Fragen aufwerfen will. Wir wissen beide, dass es unmöglich um Spenden gehen kann. Als ich den Kontakt zwischen dir und Lerouxs Frau hergestellt habe, habe ich mich nicht verweigern wollen, aber damals schon befürchtet, dass Maged Leroux irgendwann dahinter kommen wird. Nathalie, es war ein Fehler von dir, in Niger zu bleiben. Wenn du direkten Kontakt zu mir aufnehmen willst, mach es vorsichtig. Ich weiß nicht, wie sehr ich von Nutzen sein kann, da ich fürchte, unter Beobachtung zu stehen.«
Ich schließe die Nachricht. Die Botschaft ist rund fünf Stunden alt. Ich trinke den Rest des Kaffees aus. Meine Hand zittert. Ich glaubte, noch Zeit zu haben. Ich glaubte, in der Abgeschiedenheit von Agadez in Sicherheit zu sein. In Niger kann ein Mensch von der Bildfläche verschwinden. Gewollt – oder ungewollt.
Benoît Moussa arbeitet für das nigrische Außenministerium. Zu einer anderen Gelegenheit würde ich ihn zur Hilfe drängen, darum betteln – aber selbst mit den Finanzmitteln des United Nations Population Fund dahinter, den Geldern, die so wichtig für sein Land sind – ich darf sie nicht als Druckmittel verwenden. Ich würde sein Leben in die Waagschale werfen. Aber alleine schaffe ich es nicht. Meine Überlegungen kreisen um Fluchtmöglichkeiten. Deshalb entgeht er mir fast. Im Türspalt sehe ich soeben noch einen Schwanz verschwinden. Ein leises Tappen kündet von winzigen Affenfüßen. Ix hat nach dem rechten geschaut. Ich kann mich nicht erinnern, dass er das jemals zuvor getan hat. Ich fülle meine Kaffeetasse auf. Einige Schlucke später formt sich ein Plan. Vorsichtig setze ich die Tasse auf dem Schreibtisch ab. Es dämmert mir, wer mir helfen könnte. Die einzigen, die den Mut dazu besitzen. Die einzigen, die einen Maged Leroux nicht fürchten und niemals fürchten werden.
[Eddie Trick]
»Ich kann mich nicht besaufen, Bertrand. Ein Tuareg holt mich«, ich hebe meinen linken Arm und halte das Ziffernblatt meiner Armbanduhr dorthin, wo das Kaschemmenlicht einen goldenen Punkt auf die Tischplatte malt, »um 3:00 Uhr ab. So ist's ausgemacht.«
»Geht alles auf mich.« Achtlos wirft Bertrand einige Geldscheine zwischen unsere leeren Gläser. »Nein, sag nichts«, fordert er. Der Franzose steht auf und reicht mir die Hand. All die Unterschiede auf der so viel älteren Haut, die Linien auf den Fingern, kleine Farbnuancen, wo vor kurzem noch zwei Ringe gewesen sein mögen. Da sind scheißviele Geschichten in dem Mann. Kraftvoll zieht er mich vom Stuhl hoch. Dass ich ihn um zwei Köpfe überrage, beeindruckt ihn kein bisschen. Ich hätte gedacht, mit Größe und Jugend ein wenig von meiner blöden Demut ihm gegenüber gutzumachen. Falsch gedacht. Er sieht mir in die Augen und schmunzelt.
»Du wirst länger leben als ich.«
»Was?«
Bertrand schließt die Augen, schüttelt den Kopf, als gäbe es einen Grund zur Resignation. Eine schwer erziehbare Göre behandelt man so. »Das sagt man so. Das klingt besser als der übliche Schmu.« Sein Lächeln ist weinselig und entschädigt für die traurige Vorschau, die er mit seinem Spruch abgeliefert hat. »Du solltest vor der Tür warten. Ich weiß nicht, ob ein Tuareg so ein Hotel betritt.«
Schulterklopfen und nach der Jacke greifen sind die Begleitung eines Steptanzschrittes. Offenbar gut gelaunt marschiert er in den Regen. Die Tropfen trommeln einen Technotakt auf das kurze Vordach des Gebäudes. Drüben auf der anderen Straßenseite pingt es. Wasser prallt von einem vom Rost zerfressenen Metallfass ab. Die Straße schimmert schwarz. Der Wolkenbruch wäscht das Öl aus dem Sand nach oben. Kleine Bäche umspülen die teuren Wüstenstiefel des Franzosen. Er wendet sich nach rechts und läuft mit der Strömung nach Osten. Scheinwerfer flammen auf. Ein sattes Motorengeräusch setzt ein brummendes Ausrufezeichen unter die Szenerie. Bertrand wird zu einer Silhouette, verschwindet nach fünfzehn Metern in den Schlieren einer dichten Wasserwand. Das Türenklappen dringt noch bis zu mir. In welche Richtung der Wagen abfährt, kann ich nicht einmal vermuten. - Was ist das für ein Film, der hier auf einmal abläuft?! Sag's mir, Mann!
[Nathalie Pagnol]
2:30 Uhr. Ich habe gelernt, nach der Uhr zu leben. Das ist nicht gut, aber es bleibt mir nichts anderes übrig. In anderthalb Stunden ist es mit der Ruhe vorbei. Ich nutze die Zeit, um eine Dusche zu nehmen, eine kostbare Angelegenheit. Minuten darauf schwebt Wasserdampf durch den Baderaum. Zwischen den Schwaden starrt mich aus dem Spiegel eine Geisterfrau an. Meine Augen blicken noch blasser als sonst. Die Haut unterhalb davon ist gelblich. Meine Sommersprossen sehen grau aus, nicht rötlich braun, wie sie sein sollten.
»Du hast abgebaut.«