Germanien. Karl Reiche
hielt sie mit beiden Händen fest und lief, so schnell sie konnte, um ihr Leben.
Aber das wendige kleine Pferd des fremden Reiters war sehr viel schneller. Genau unter ihrer Eiche warf sich der Fremde vom Pferd direkt auf Frida und riss sie zu Boden. Sie zappelte und wehrte sich verzweifelt, als ihr der Fremde die Röcke weiter hochzuschieben begann. Als er ihr eine kräftige Ohrfeige gab, zog Frida die Beine an, trat ihm mit beiden Füssen in den Bauch und schleuderte ihn so von sich. Mit einem verblüfften Schmerzenslaut fiel der Fremde hintenüber auf seinen Hintern.
Aber sofort, noch bevor Frida sich aufrappeln und weiter fliehen konnte, war er mit einem wütenden Schrei wieder auf den Beinen, griff mit einer schnellen Bewegung an seinen Gürtel, riss einen Dolch heraus, hieb ihn Frieda an den Hals und durchschnitt ihre linke Halsschlagader. Dann warf er sich wieder auf sie. Frida verblutete, während der Fremde sie vergewaltigte.
Das Ganze war so überraschend schnell gegangen, dass die Kinder im Baum noch nicht einmal einen Schreckensschrei hatten ausstoßen können, und nur starr vor Schrecken nach unten sehen konnten. Gudrun biss sich, mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, in den linken Unterarm, um nicht laut zu schreien.
Astolf dagegen fühlte sich auf einmal gar nicht mehr wie ein bald erwachsener Mann, sondern wieder wie ein hilfloser kleiner Junge. Sein Vater hatte zwar bereits vor Jahren damit begonnen, ihm die Grundzüge des Kämpfens beizubringen:
Wie man mit einem Schwert und einem Speer im Krieg umgehen musste,
wie man sich mit einem Schild im Kampf decken musste,
wie man mit Pfeil und Bogen umgehen sollte.
Aber er hatte geglaubt, noch viel Zeit zu haben und bisher nur die Grundzüge gelernt.
Außerdem hatte er weder ein Schwert, noch einen Speer bei sich, nur seinen Jagdbogen. Er war doch nur ein Junge, war noch nie auf einem Kriegszug mit gewesen, hatte noch keinerlei Erfahrung, wie man kämpft, und schon gar nicht gegen einen so schnell reagierenden ausgewachsenen Mann, wie den Fremden dort unten.
Hilflos und vor Angst fast unfähig, sich zu bewegen, musste er mit ansehen, wie unter ihrem Baum Frida starb.
Während Frida unter ihrem Baum unaufhaltsam verblutete, begann sich aber sein Gefühl der Hilflosigkeit in Wut auf den brutalen Fremden zu verwandeln. Eine Zeit lang kämpfte die Angst gegen die und Wut und beide gegeneinander.
Die Wut siegte.
Ganz allmählich wich seine Angst einem eiskalten Zorn.
Vorsichtig, um ja kein verräterisches Geräusch zu machen, griff er in seinen Köcher, holte einen der Pfeile heraus und legte ihn auf die Sehne. Es war ein Jagdpfeil mit einer flachen sehr scharf geschliffenen eisernen Spitze, aber ohne Widerhaken. Leise spannte er den Bogen und zog die Sehne bis zu seinem rechten Ohr durch.
Wieder war die Angst da.
Wenn er jetzt nicht richtig traf, waren auch Gudrun und er verloren. Dieser Fremde dort unten würde spielend leicht mit ihm fertig werden und was dann Gudrun blühte, hatte er eben bei Frida gesehen.
Auf einmal spürte er innerlich, wie die Angst einer eiskalten Ruhe und Sicherheit wich. Er zielte sorgfältig. Auf diese kurze Entfernung konnte er eigentlich nicht danebenschießen und tat es auch nicht. Der Pfeil bohrte sich mit einem leisen ekelhaften „Plopp“ in den Nacken des Fremden.
Der stieß einen kurzen, schrill gurgelnden Schrei aus, griff sich an die Kehle und sackte dann über Frida zusammen.
„Komm“, sagte Astolf leise zu Gudrun. „Hier können wir nicht bleiben. Sie würden uns finden.“
Er hatte plötzlich keine Angst mehr, sondern fühlte eine Ruhe und Sicherheit, die er bisher an sich noch nicht kannte.
Der Fremde war tot.
Woher er das Wissen und die Kraft nahm, jetzt sicher und zielstrebig zu handeln, wusste er nicht. Es kam einfach irgendwie aus ihm heraus.
Er kletterte vom Baum hinunter und eilte die drei Schritte zu dem Fremden, stellte seinen Fuß in dessen Nacken und riss den Pfeil heraus.
Dann bückte er sich und tastete an Fridas Hüfte nach deren Küchenmesser. Als er es endlich fand, zerrte es aus der Scheide und stieß es dem Fremden so in die Pfeilwunde, dass die Spitze an dessen Kehle wieder heraustrat. Danach drückte er Fridas leblose rechte Hand um den Griff des blutverschmierten Messers, nahm Gudrun wieder bei der Hand und rannte mit ihr los.
„Warum hast du das getan?“ keuchte Gudrun während des Laufens.
„Was, den Fremden getötet?“
„Nein, ich meine das mit Fridas Messer.“
„Der Fremde war einer von den Reitern, die unser Dorf überfallen haben. Wenn er nicht wieder zurückkommt, werden seine Leute nach ihm suchen. Wenn sie ihn mit einer Pfeilwunde im Nacken finden, dann wissen sie, dass hier noch jemand ist, und werden auch nach uns suchen. So hoffe ich, dass sie glauben, Frida hätte sich so verzweifelt gewehrt und ihn getötet.“
Am Rande der Blaubeerenlichtung war ein Windbruch mit einem Hohlraum, den sie schon oft beim Spielen als Versteck genutzt hatten. Zu diesem liefen sie jetzt, krochen hinein und versuchten ihren keuchenden Atem zu unterdrücken.
Aus der Richtung ihres Dorfes konnten sie noch eine lange Zeit Lärm hören: Rufe in einer fremden Sprache und Schreie der letzten Dorfbewohner. Dann trat Stille ein.
Wieder hörten sie Hufschlag ganz in ihrer Nähe und Rufe der fremden Reiter. Offensichtlich suchten diese nach dem Mann, den Astolf getötet hatte und nach weiteren Entflohenen.
Aufgeregte Rufe und Stimmengewirr verkündeten ihnen, dass sie den Fremden gefunden hatten. Dann erklang Gelächter, das sich irgendwie höhnisch und schadenfroh anhörte. Nach einer Weile entfernten sich die Hufschläge wieder. Die Reiter hatten offenbar keine große Lust, intensiv nach Entflohenen zu suchen und Astolfs List ging offensichtlich auf. Vom Dorf her war jetzt nur noch das Johlen der Fremden zu hören.
Dann – nach einer Weile - das immer leiser werdende Donnern einer sich entfernenden großen Reitergruppe.
Lange Zeit blieben die Kinder, eng aneinandergedrückt, in ihrer Höhle hocken. Sie zitterten vor Angst und Schrecken über das eben Erlebte. Als sie hörten, dass sie fremden Reiter davonritten, blieben sie noch eine Weile in dem Windbruch hocken. Aber sie konnten nicht auf ewig hier bleiben. Sie wollten vor allen Dingen wissen, ob außer ihnen noch jemand diesen Überfall überlebt hatte und ob ihre Eltern noch am Leben waren.
Langsam überwanden sie ihre Angst. Vorsichtig und leise krochen sie aus dem Windbruch hinaus.
Sofort nahmen sie Brandgeruch war. Astolf legte sicherheitshalber einen Pfeil auf die Sehne und spannte seinen Bogen ein wenig. So schlichen sie den Weg, den sie vorhin gerannt waren, zurück ins Dorf. Jetzt bemerkten sie neben dem Brandgeruch auch die Geräusche eines großen Feuers. Je näher sie dem Dorf kamen, desto stärker wurde der Brandgeruch und desto lauter wurde der Lärm des Feuers.
Als die Kinder aus dem Waldrand heraustraten, konnten sie ihr Dorf sehen, beziehungsweise das, was davon übriggeblieben war.
Es gab kein Dorf mehr. Wo früher die Häuser gestanden hatten, befanden sich jetzt nur noch hell lodernde riesige Feuer. Gerade brach ein solches Feuer – es war dort, wo einst ihr Elternhaus gestanden hatte – mit einem gewaltigen nach oben steigenden Funkenregen in sich zusammen.
Von den fremden Reitern war nichts mehr zu sehen oder zu hören. Aber auf dem Dorfplatz lag an vielen Stellen etwas, was wie ein Kleiderhaufen aussah. Erst als die verängstigten Kinder sich langsam und vorsichtig aus dem Wald auf die Lichtung wagten, erkannten sie, dass es getötete Menschen, ihre Freunde und Nachbarn, waren.
„Wo sind Mama und Inge?“, fragte Gudrun mit leiser Stimme.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht waren sie noch im Haus, als es verbrannte. Lass uns nachsehen, ob sich außer uns noch jemand irgendwo verstecken konnte. Vielleicht