Gärten des Jahres 2022. Dieter Kosslick

Gärten des Jahres 2022 - Dieter Kosslick


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Menschen so bewusst geworden, was ihnen in dieser Zeit fehlt: Natur und Kultur.

      Es geht neben der Sorge um den sicheren Arbeitsplatz immer mehr um gute Lebensmittel und Überlebensmittel wie Theater, Musik, Museen, Kino und Literatur – und Garten, oder präziser gesagt, das Gärtnern. Dem Home- office der isolierten Heimarbeit steht in dieser Zeit das wachsende Bedürfnis entgegen „ins Freie“ zu streben. In Parks und Gärten hinaus in die Natur wie einst die Wandervögel. Nicht nur Hotels und Restaurants wurden in Windeseile nach den Lockerungen der Pandemieregeln auf Monate voraus reserviert, sondern auch die meisten Kulturveranstaltungen. „Ins Freie“ lautete das Motto des Sommerprogramms im brandenburgischen Schinkelschloss Neuhardenberg mit seinem wunderschönen Staudengarten und weitläufigen Peter Josef Lenée-Park. In wenigen Stunden war auch dieses Programm komplett ausverkauft. Die Menschen konnten es nicht erwarten, „ins Freie“ zu kommen, zu Open-Air-Konzerten, Kinoabenden und kulinarischen Arrangements.

      Plötzlich realisierten sie, wie eng die doch so hochgelobten Kulturmetropolen wurden und wie groß die Sehnsucht nach frischer Luft ohne Maske.

      Eine regelrechte Stadtflucht begann und eine Autostunde rund um Berlin gab es keine Einfamilienhäuser, Datschen und Schrebergärten mehr. Dies markiert nur den vorläufigen Höhepunkt, forciert durch das Virus, was schon länger in den lauten und Abgas-stickigen Städten vor sich geht.

       Luftschlösser statt Prinzessinnengarten

      Vor einigen Jahren schrieb ich einen Leserbrief zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, einem monumentalen postbarocken Betonklotz mit einer 200 m langen, nachgemachten Preußen-Fassade. Wer sich ein solches Schloss, das über eine Milliarde Steuergelder verschlingt, leisten kann, sollte sich auch einen kleinen Prinzessinnengarten gönnen, schrieb ich. Dieser, von jungen Gartenenthusiasten gepflanzte Prinzessinnengarten mitten in Kreuzberg, holte damals die Natur und das Gärtnern in die Stadt zurück und machte urban gardening weltweit bekannt. Und dieser Modellgarten war wieder einmal gefährdet. Das Grundstück liegt im heißen Spekulationsgebiet der Innenstadt. Mit einer Milliarde Euro Schlossaufbauhilfe hätte man die schönsten Stadtteilgärten der Welt anlegen und unterstützen können. Dann wäre sogar noch genügend Geld übrig gewesen, um auf der Wiese des heutigen Schlossgeländes, auf dem Gelände des abgerissenen Palasts der Republik der DDR, einen Garten der Lüste und der Wiedervereinigung, einen riesigen gesamtdeutschen Naschgarten anzulegen. Für eine Zeit lang hätte dieser Garten Ost und West verbunden und alle Nationen zum gemeinsamen Gärtnern eingeladen.

      Was für ein verbindendes Paradies, was für ein globaler Integrations-Garten mit Einflüssen aus der ganzen Welt hätte das werden können.

      So absurd das vielleicht klingen mag, so absurd wie die verrückte und realisierte Idee, mitten in Berlin heute wieder ein Kaiserschloss aufzubauen, ist die Gartenidee bei Weitem nicht. In seinem engagierten Essay „Die große Illusion – Ein Schloss, eine Fassade und ein Traum von Preussen“ schreibt Hans von Trotha über die nicht enden wollenden Kontroversen über dieses Bauwerk.

      Er zitiert den Architekturhistoriker Julius Posener mit einem Gartenvorschlag ganz besonderer Art: Garten statt Schloss. „Mein Vorschlag ist der: Man lasse sich Zeit. Man baue an diese Stelle, ich meine an die Stelle der alten Lustgartenfront eine Front, welche als Durchgang dienen möge: als Durchgang zunächst zu einem Garten. Es ist natürlich im höchsten Maße wünschenswert, dass an dieser Stelle der Stadt einmal ein Gebäude von großer Wichtigkeit für das Leben der Stadt stehen möge: etwas Lebendigeres als das alte verlassene Kaiserschloss. Wir wissen noch nicht recht, was das sein soll. Lassen wir uns Zeit.“

      Dies kommentiert Hans von Trotha trocken, „ (…) dass auf diesen Rat gehört werden würde, war von allen die allergrößte Illusion“. Und so steht nun das Schloss. Die gute Nachricht: im Prinzessinnengarten blüht es auch noch, und noch immer gibt es Guerilla-Gardening mit selbst gemachten Blumensamenbomben, die in die Beton- und Schotterritzen der Stadt geworfen werden.

       Ein Hoch auf das Beet

      Trotz dicker Luft: Die Pflanzen erobern im Sommer die Städte wieder auf besondere Art. Beerensträucher und Blumen, gierige Kürbisse und Zucchini schlängeln sich mit ihren riesigen grünen Blättern und sonnengelben Blüten über die Geländer kleinster Balkone und durch Minigärten. Wer mehr Platz hat und bereits einen Garten vor den Toren der Metropolen ergatterte, erfreut sich am Staudengärtnern. Aber neben dem legendären Rittersporn und der Schachbrettblume des noch legendäreren Staudenpapstes, Pionier, Gartenphilosophen und Autor zahlreicher Gartenbücher, Karl Foerster, wird jetzt auch in der Stadt für die Küche gegraben und gepflanzt.

      Im Stehen, ohne sich zu bücken: Das Hochbeet trat seinen bisher ungebremsten Siegeszug dank der Lust an selbst gepflanzten und essbaren Landschaften an. Pflücksalat, nicht Bücksalat, heißt die Parole. Und statt der nicht enden wollenden Fotos von sensationell designten Sternegerichten, die einem weltweit Speisehedonisten auf das Handy schicken, kommen jetzt, wie Kai aus der Kiste, Fotos der ersten Ernte eigener Rauke, der Radieschen und des gesäten Feldsalates aufs Display.

      Auch ich bin dabei. Die vielen frischen Kräuter für das süddeutsche Spargelgericht mit Kratzede meiner Mutter kommen aus meiner Stadtgartenkiste. Kratzede ist übrigens ein Kräuterpfannkuchen, der wie ein salziger Kaiserschmarren in der Pfanne bereits zerteilt wird. Eine köstliche Beilage für weißen und grünen Spargel.

      Ein Hochbeet ist einfach genial: „Zeitiger ernten und länger ernten“, so die Hochbeetunternehmerin und Autorin Doris Kampas in ihrem bestsellersicheren Allmanach „Garten aus der Kiste“.

       Legoland-Bewegung

      Zurück vom Hochbeet zu noch höheren Einheiten: die neue Lust am Land, der Natur und der Staudenparadiese, des Bird Watchings, selbst gerührten Marmeladen und trüben Apfelsaft von Streuobstwiesen ist nur eine Art Legoland-Bewegung, verglichen mit den großen Veränderungen in der Natur. Der größten seit Menschheitsgedenken, wie es so immer heißt, der Klimakatastrophe. Die noch von ziemlich freien Topdemokraten verhöhnten und geschuriegelten Jugendlichen „Politik sollte man Profis überlassen“, haben Parteimanager und Energiefunktionäre in ihre Schranken verwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat der herrschenden Klasse, dem Wirtschafts- und Verkehrsminister höchstrichterlich bescheinigt, dass durch ihr Zögern der Lebensraum und die Zukunft der nächsten Generationen aufs Spiel gesetzt wird. „Setzen fünf, nachsitzen“, hätte man dazu früher gesagt. Die Politiker können froh sein, dass die meisten Jugendlichen noch nicht zur Wahl gehen dürfen.

      Manipulierte Verbrennungsmotoren der Autoindustrie, sinnlose Verlängerung der Laufzeiten veralteter Kohlekraftwerke, eine CO2-intensive Landwirtschaftspolitik und eine Lebensmittelbranche, die mit großem Einsatz von Chemie die Nahrungsmittelproduktion vervielfacht, verbilligt und damit zum massenhaften Wegwerfen essbarer Produkte animiert: In Deutschland werden jedes Jahr rund 12 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Das alles muss ein Ende haben, sollen die Klimaziele erreicht werden. „Wir haben es satt“ skandieren Tausende von Menschen jeden Januar vor dem Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft und demonstrieren für „Bio“ und „Zero Waste“. Auf den letzten Drücker stellte die Kanzlerin die Ergebnisse einer „Zukunftskommission Landwirtschaft“ vor, die eine radikale Wende hin zu organischem Landwirtschaften, klimaschonendem Produzieren und ein Ende der unsäglichen Quälerei in der Massentierhaltung vorschlägt. Die zuständige Ministerin, verantwortlich für die fehlgeleiteten Milliarden Euro Subventionen, durfte erst gar nicht mit zur Pressekonferenz.

      Auch ohne Pandemie und die permanente Luftverschmutzung ist das Bedürfnis nach frischer Luft in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Gepaart mit neu erwachtem Heimatgefühl und der Suche nach den eigenen Wurzeln und der Identität. Es hatte sich still und leise, aber millionenfach angekündigt und entwickelte sich ganz unpolitisch: plötzlich füllten sich die Regalreihen der Zeitschriftenläden mit Titeln wie „Landlust“ und „Landleben“, einfache schöne Dinge für ein einfaches schönes Leben.

      Natürlich mit


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