MAD-MIX2: Corona-Shorts. Mari März

MAD-MIX2: Corona-Shorts - Mari März


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Nein, das ist nichts für mich. Anbiedern ist das Steckenpferd meiner Schwester. Als Ebenbild unserer Mutter füllt sie Gläser auf, reicht Tabletts mit Kuchen und Canapés herum, präsentiert ihr Friede-Freude-Eierkuchen-Lächeln und glaubt offensichtlich sogar, dass alles in bester Ordnung sei.

      Das Haar ist so fest um meinen Zeigefinger gewickelt, dass ich ein schmerzhaftes Pochen spüre. Mein Blut kann nicht mehr richtig fließen, die Gefäße sind eingeengt von einem schlichten Haar. Mein Finger und ich haben vieles gemeinsam. Ich zerre das Haar von meinem Fleisch, gebe ihm Raum, werfe es auf den Teppich zu den Kuchenkrümeln der Gäste. Wenn ich noch länger zwischen all diesen netten Menschen sitze, werde ich explodieren.

      »Wo willst du denn hin, Schätzchen?«

      Meine Mutter hat ihre Augen überall, sieht aber letztlich nur das, was sie sehen will. Mich hat sie seit meiner Ankunft fest im Blick, auch wenn sie keine Ahnung hat, wie es mir geht. Ich habe gehofft, dass sie nicht bemerkt, wie ich mich aus dem Haus stehle, aber weit gefehlt. Ihre Unterhaltung mit zwei älteren Damen ist nur Fassade – wie alles hier.

      »Ich gehe mal an die frische Luft«, brumme ich eine lieblose Erklärung und verlasse meinen Platz auf der Couch. Er wird sofort von einigen Kindern okkupiert, die ich nicht kenne. Keine Verwandtschaft, soweit ich weiß. Aber was weiß ich schon?

      Alles hier wirkt fremd, wie aus einem Film, den ich irgendwann einmal gesehen habe. Die Erinnerungen sind bruchstückhaft, längst versunken in der Zeit. Ich bahne meinen Weg an Menschen vorbei, die mir fremd sind, durch ein Haus, das irgendwann mein Zuhause war. Der Geruch nach Vergangenheit begleitet mich, hüllt mich ein wie dichter Nebel, klebt an mir wie eine Patina – Schicht für Schicht ein Erlebnis, das ich vergessen habe.

      Ich öffne die Tür, atme die frische Frühlingsluft, empfange das Licht der Märzsonne auf meiner Haut und könnte fast glauben, dass ich mich gut fühle.

      Glitzer und Staub – zwei Dinge, die nicht zusammengehören und doch hier an diesem Ort vereint sind wie ein Paar Socken, von denen eines ein Loch hat. Ich bin die Socke mit dem Loch, war es immer gewesen. Ich bin der Staub, den man gern unter den Teppich kehrt wie unliebsame Wahrheiten.

      »Na, Melli-Herz, auch ’ne Kippe?«

      Onkel Dieter. Natürlich! Der Bruder meines Vaters. Sein Ebenbild oder vielmehr das Negativ – seitenverkehrt, entgegengesetzte Farbgebung, umgekehrt belichtet. Wie ich und meine Schwester. Sie ist der Glitzer, ich der Staub.

      Nur widerwillig lächle ich Onkel Dieter zu und gehe weiter. Er wohnt nebenan, die Grundstücke gehörten früher zusammen. Jeder Bruder bekam genau die Hälfte, baute ein Haus; das eine hell und schön, das andere dunkel. Im Gegensatz zu Papa war Onkel Dieter viel zu Hause. Bei sich und bei uns. Er half mir bei den Schularbeiten, meiner Mutter im Garten, meiner Schwester bei was auch immer. Er war immer da – wie ein Möbelstück, das man nicht wegwerfen will oder kann.

      Ob er meiner Mutter immer noch im Garten hilft? Alles sieht gepflegt aus, Hecken und Sträucher sind bereits geschnitten, Schneeglöckchen, Krokusse und Narzissen recken ihre bunten Spitzen siegesmutig der Sonne entgegen. Kein Frühblüher steht zufällig, ihre Zwiebeln wurden präzise in den Boden gesteckt; zwischen Gartenzwerge und Dekosteine. Und falls sich doch eine Pflanze erdreisten sollte, am falschen Fleck zu wachsen, dann wird sie herausgerissen und weggeworfen. Immer hübsch akkurat und adrett.

      Schon als Kind hasste ich diese pedantische Ordnung, fühlte mich wie in einer Filmkulisse. Nichts war real und ich nicht mehr als ein Requisit. Vielleicht kann ich mich deshalb nur schwer an jene Zeit erinnern. Sie war nicht echt, fühlte sich falsch an.

      Wie von selbst tragen mich meine Füße zu dem alten Apfelbaum. Seine Krone ist gestutzt, für den Sommer vorbereitet. Er wird Früchte tragen.

      Die Schaukel hängt noch. Eines der wenigen Rudimente meiner Kindheit. Meiner und ...

      Ich halte mich fest an den kalten Ketten der Schaukel. Der starke Ast des Apfelbaums ächzt unter meinem Gewicht. Mein Fuß tritt auf den Rasen, stößt sich ab.

      Bewegung.

      Mein Körper schwingt vor und zurück, während ich den Joint aus meiner Jackentasche krame, ihn anzünde und tief jene Substanz inhaliere, die mir all die Jahre beim Vergessen half.

      Entspannung.

      Mit jedem weiteren Zug spüre ich, wie eine Last von mir fällt. Ich schwinge, schaukle, drifte zurück durch die Zeit. Jetset, Meetings, Afterwork, Manhatten, Skyline, mein Apartment, Männer, namenlos ... Arbeit, Termine, Hektik, Yogastudio, Achtzigstundenwochen, Studium, Freiheit ... Auszug, Abschlussball, Konfirmation, Sommer, Baden im See, Hausaufgaben, Pickel, die erste Menstruation, Onkel Dieter ...

      Wie früher steht er hinter mir, gibt mir einen Schubs, noch einen, bis ich auf meiner Schaukel durch die Luft fliege.

      Mochte ich das früher, mag ich es jetzt?

      Bilder.

      Der Film, in dem ich mich mein Leben lang gefangen fühlte, wird von einer imaginären Macht abgespielt.

      Stück für Stück.

      Bild für Bild.

      Ich will ihn nicht sehen.

      »Das gefällt dir, stimmt’s?«, brummt Onkel Dieter hinter mir. Mein Körper fliegt, doch mein Blick ist starr auf ein kleines Mädchen gerichtet. Es steht direkt vor mir in einem hübschen Sommerkleid ... am Eingang zur Garage.

      Papas Domizil.

      Wo kommt es plötzlich her?

      »Halte an, Onkel Dieter!«

      Ich höre sein Lachen, rieche den Zigarettenqualm. Alles wie früher. Doch heute bin ich erwachsen, kann mich wehren. Deshalb springe ich von der Schaukel, lande hart vor den Füßen des Mädchens. Noch immer haften meine Augen an der Kleinen. Auf ihrem Kleid erkenne ich jetzt einen Namen mit rosarotem Garn gestickt.

      LISSI.

      Wer ist Lissi, zu wem gehört sie?

      Ich drehe mich zu Onkel Dieter, will ihn fragen. Er zündet sich die nächste Zigarette an und grinst. Dann zeigt er auf den halbgerauchten Joint, der unter der Schaukel im Gras liegt. »Das mit den Drogen haste immer noch nich im Griff, wa?«

      »Das ist Medizin. Was geht es dich an?!«, erwidere ich trotzig wie ein Teenager, klaube den Joint vom Boden und stecke ihn zurück in meine Jackentasche. Dann stehe ich auf, klopfe mir Grashalme von der Jeans, und während ich mich zurück zu dem Mädchen drehe, sage ich: »Willst du jetzt schaukeln?«

      Meine Frage erreicht den Empfänger nicht. Lissi ist verschwunden. Verwirrt schaue ich mich um, kein Mädchen, kein Kleid mit rosarot gestickten Buchstaben.

      »Wer, ich?« Onkel Dieter feixt vor sich hin, hustet, zieht an seiner Zigarette und brummt: »Mädel, du bist noch genauso irre wie früher.«

      Ich will das nicht hören, stürze an ihm vorbei, zurück ins Haus. Keine Sekunde länger kann ich hierbleiben. Meine Tasche, wo ist meine Tasche? Ich werde sie holen und dann von hier verschwinden.

      Für immer!

      »Mel-Schätzchen, da bist du ja! Komm, setz dich zu uns! Wir unterhalten uns gerade über Papa. Du warst doch sein Liebling, also erzähl doch bitte etwas Nettes über ihn!«

      Die Luft ist stickig hier drin. Zu viele Menschen. Warum gehen sie nicht endlich? Was haben sie hier zu suchen? Papa ist tot, da hilft es auch nicht, etwas Nettes über ihn zu sagen.

      »Mir fällt nichts ein«, will ich ihrer Bitte ausweichen, weiß aber, dass es keinen Sinn hat. Denn meine Mutter ist daran gewöhnt, dass man ihren Wünschen nachkommt. Jeder, der es bisher wagte, ihr etwas abzuschlagen, musste mit den Konsequenzen leben, die von Nervenzusammenbrüchen bis Selbstmorddrohungen reichten. In dieser Familie sind alle darauf konditioniert, Mutters Wünsche zu respektieren. Auch ich.

      Deshalb schlurfe ich widerwillig zur Couch, quetsche mich zwischen Tante Claudia und meine Mutter, hole tief Luft und


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