MAD-MIX2: Corona-Shorts. Mari März

MAD-MIX2: Corona-Shorts - Mari März


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schnappe ich mir den Teller vom Tisch, auf dem immer noch jenes Kuchenstück liegt, das ich vorhin nicht essen konnte. Auch jetzt habe ich keine Lust darauf, aber vielleicht lenkt es meine Mutter ab.

      »Mmh, ist der lecker! Wer hat den gebacken?«

      Tante Claudia neben mir hebt lächelnd den Zeigefinger. Ich könnte ihr eines meiner Haare darum wickeln.

      »Mama, wo hast du eigentlich meine Tasche hingestellt?«

      Mutter starrt mich an. Ich weiß, was in ihrem perfekt frisierten Kopf vorgeht. Sie will, dass ich etwas Nettes über Papa sage. Doch jetzt lamentiert Tante Claudia über ihren Kuchen, erläutert die Zutaten, erklärt bis ins Detail, wie sie ihn gebacken hat. Ein neues Rezept aus diesem Internet.

      Viele am Tisch schauen skeptisch. Sie sind zu alt, um das Internet zu kennen. Meine Schwester nutzt diesen vermaledeiten Umstand, die Unterhaltung zu unterbrechen und damit Tante Claudia die Show zu stehlen. Das macht sie immer so. Genau wie Mutter. Diese ringt um ihre Fassung. Am liebsten würde sie jetzt Migräne bekommen oder theatralisch in Ohnmacht fallen, nur um im Mittelpunkt zu sein. Stattdessen hat sie offenbar einen anderen Plan. Sie steht auf, streicht sich das Kleid glatt, prüft mit geübtem Handgriff, ob ihre Frisur noch sitzt, und verschwindet im ersten Stock, wo früher unsere Kinderzimmer waren. Das meiner Schwester dient heute als Wäscheraum, meins wurde umfunktioniert zu einem privaten Wellnesstempel. Gleich nach meinem Auszug musste Papa die Wand zum Bad herausreißen, alles frisch renovieren und eine Sauna bauen, wo einst mein Bett stand. Alles, was ich bei meinem Auszug nicht mitgenommen habe, landete in der Altkleidersammlung oder auf dem Sperrmüll.

      Nichts von mir ist übrig in diesem Haus.

      Ich bin nicht traurig darüber.

      »Schätzchen, schau mal, was ich für dich habe!«

      Mutter ist zurück. Sie hält einen Karton in der Hand, den ich erkenne. Als kleines Mädchen habe ich Schuhkartons mit buntem Papier und glitzernden Pailletten beklebt, um darin alles Mögliche aufzuheben. Einen dieser Kartons stellt Mutter nun neben den Kuchenteller auf den Couchtisch. Mit einem strahlenden Lächeln nimmt sie den Deckel ab und schiebt ihn unter den Karton. »Ich hätte dir das auch schicken können, aber irgendwie dachten wir, dass es schöner wäre, wenn du die Sachen hier an dich nimmst.«

      Welche Sachen? In dem Karton liegt nur altes Zeug. Eine Puppe, Tagebücher, mein erstes Handy. Was soll ich damit? Alles, was ich brauche, habe ich in meinem Apartment in New York City. Zum Glück geht morgen mein Flug nach Hause. Wenn ich endlich weiß, wo Mutter meine Tasche hingestellt hat, könnte ich mir ein Taxi rufen und irgendwo in Flughafennähe ein Hotelzimmer mieten. Ich muss hier weg, und zwar schleunigst!

      »Das Handy habe ich versucht aufzuladen.«

      Hat sie das gerade wirklich gesagt? Dieses blöde Handy ist fünfzehn Jahre alt! Was soll ich damit?

      Mutter stellt mir den Karton auf den Schoß. Da ist dieses Drängen in ihrer Aura, das ich früher schon hasste. Immer muss es nach ihrem verdammten Willen gehen. Alle am Tisch schauen mich an, nein, sie glotzen. Hässliche Fratzen. Penetrant.

      Was wollen sie von mir?

      Stumm starre ich auf den Karton. Er wiegt schwer auf meinem Schoß. Zu schwer!

      Der Geruch nach etwas Altem kriecht mir in die Nase. Ich rieche Staub.

      Glitzer und Staub.

      Etwas Vertrautes.

      Abstoßendes.

      »Sie hat ihren Vater so geliebt«, höre ich meine Mutter dumpf im Hintergrund, als wäre sie plötzlich weit weg. Aber da sind immer noch die stechenden Blicke der anderen. Meine Schwester, sie taxiert mich wie eine Hyäne. Als Kinder hatten wir einen guten Draht zueinander, spielten und lachten gemeinsam. Irgendwann begann ich sie zu hassen, weil sie so war wie meine Mutter.

      Warum eigentlich?

      Am liebsten würde ich diesen Karton quer über den Couchtisch werfen. Mitten in die heile Welt der Kaffeetassen.

      »Wo hast du meine Tasche hingestellt?«

      Mutter unterbricht ihre Unterhaltung mit Tante Claudia, die mich betroffen ansieht, als wäre ich krank oder so. »Schätzchen, ich habe deine Tasche nicht weggestellt.«

      Ich nicke, sage aber nichts. Natürlich hat sie meine Tasche weggestellt, weil sie nicht will, dass ich gehe.

      Dieser Karton, ich muss ihn loswerden. Vielleicht sollte ich ihn draußen in die Mülltonne werfen. Nichts darin ist von Wert. Meine Tagebücher, ja. Sie könnten eine hübsche Erinnerung sein ... Woran? An Pickel, Pubertät und Liebeskummer? Und dann dieses Handy. Ich nehme es in die Hand, wische mit dem Daumen über das Display. Es leuchtet.

      Was?

      Erinnere dich!

      Wer hat diese Nachricht geschrieben? Aufmerksam betrachte ich die Gesichter um mich. Niemand sieht zu mir, sie alle sind vertieft in ein Video, das wohl unsere Mutter gerade angeschaltet hat. Sie und Papa beim Standesamt, beide glücklich lächelnd während ihrer Hochzeitsfeier ...

      Mutter sitzt weinend vor dem Fernseher. So zerbrechlich habe ich sie noch nie gesehen.

      Ich muss hier raus!

      Niemand bemerkt, wie ich aufstehe. Alle schauen gebannt auf den Fernseher. Mutter schluchzt herzerweichend, Tante Claudia ebenfalls.

      Auf Zehenspitzen schleiche ich mich aus dem Wohnzimmer, den Karton unter dem Arm. Das Display leuchtet schon wieder. Keine weitere Nachricht. Ein Foto.

      Das Mädchen von vorhin.

      Dasselbe Kleid.

      LISSI.

      Aber etwas ist anders. Das Kleid ist schmutzig.

      Blut am Saum.

      Wer hat dieses Foto gemacht?

      Was ist hier los?

      Ich stürzte aus dem Haus.

      Wohin?

      Onkel Dieter ist nicht zu sehen.

      Ich laufe zur Schaukel vor der Garage.

      Papas Domizil.

      Hier stand das Mädchen vorhin. Dasselbe Kleid. Jetzt ist es schmutzig. Blutig! Was ist passiert?

      Ich presse den Karton an mich, schaue hinein, als würde ich dort eine Antwort finden.

      Das Handy. Wieder eine Nachricht.

      Finde mich!

      Wie kann das sein? Wie soll ein kleines Mädchen mir diese Nachricht schicken?

      Noch ein Foto.

      Dasselbe Kleid. Bis über den Bauch hochgezogen. Kein Schlüpfer. Blut. Das Mädchen sitzt auf einer Werkbank. Eine Tüte Gummibärchen in der Hand.

      Ich hasse Gummibärchen!

      Mein Blick schweift durch den Garten, verharrt am Haus. Soll ich die anderen rufen? Irgendetwas in mir schreit, dass sie nicht helfen werden. Warum? Jeder würde doch helfen, wenn ein kleines Mädchen in Gefahr ist. Oder?

      Einem inneren Drang folgend, stelle ich den Karton auf die Schaukel, nehme das Handy und laufe zur Garage. Es sind nur ein paar Meter, doch die Distanz ist plötzlich riesig, als würde sich das Garagentor mit jedem Schritt weiter entfernen. Ich atme tief ein, noch einmal. Das Handy in meiner Hand vibriert.

      Gleich hast du mich gefunden. Beeil dich!

      Noch ein Foto.

      Die kleine Lissi ist nicht allein. Noch immer sitzt sie auf der Werkbank. Ein Mann steht vor ihr. Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Die nackten Beinchen des Mädchens links und rechts neben seinem beharrten Hintern. Seine Hose hängt in den Kniekehlen. Die Tüte Gummibärchen. Lissis Hand verkrampft sich darum.

      Ich muss sie finden.

      Endlich


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