MAD-MIX2: Corona-Shorts. Mari März

MAD-MIX2: Corona-Shorts - Mari März


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ihn hoch, bedecke das Handy, meine Tagebücher und verschließe mein Memo. Sanft streichen meine Finger über den Deckel, bis sie etwas offenbaren, das mich erstarren lässt. Auf dem Deckel sind fünf Buchstaben. Ordentlich aus rosarotem Buntpapier ausgeschnitten, abgeklebt, mit einem Glitzerfilzstift umrandet.

      LISSI.

      Erkenntnis explodiert in meinem Kopf. Meine Finger krampfen sich um den Deckel mit den fünf Buchstaben. Es gibt keine Lissi. Nicht mehr! Ihre Seele starb an meinem sechsten Geburtstag.

      »Mel-Schätzchen, dein Taxi ist da. Ich hatte so gehofft, dass du diesen Tag nicht kaputtmachst. Gerade heute zur Beerdigung deines lieben Papas.«

      Mir wird wieder schlecht.

      Ich schmecke Blut.

      Blut und Sperma.

      Wie einen Schutzschild halte ich den Karton vor meine Brust gepresst, als ich mich erhebe und an Mutter vorbeilaufe. Ich schenke ihr einen letzten hasserfüllten Blick. »Mein lieber Papa soll in der Hölle schmoren!«

      Dann laufe ich in den Garten, vorbei an der Schaukel, den entsetzten Leichenschmaus-Gästen, meiner Schwester, Tante Claudia, Onkel Dieter ... hin zur Straße, wo Doktor Kramer auf mich erwartet. Mein Therapeut. Ich weiß jetzt wieder, dass es kein Apartment in Manhatten gibt. Seit fünfzehn Jahren lebe ich in einer betreuten Wohngemeinschaft und bin Dauergast der psychiatrischen Klinik in Berlin.

      »Melissa! Ich freue mich, Sie wohlauf zu sehen«, empfängt mich Doktor Kramer. Er hat mir für heute freigegeben, damit ich meinen Vater beerdigen kann. Wahrscheinlich hofft er auf eine Traumabewältigung, dass mein Unterbewusstsein länger als ein paar Minuten die Vergangenheit preisgibt. Doch ich habe die Hoffnung längst verloren. Meine Seele wird nicht wieder gesund, sie ist gestorben, damals ... an meinem sechsten Geburtstag.

      Die Sehnsucht nach dem Verfall

      MARI MÄRZ © 2020

      Wie verzerrt ist unsere Wahrnehmung? Können wir überhaupt noch zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden?

      Natürlich sind wir in der Lage, unseren Alltag ohne rosarote Brille wahrzunehmen. Oder? Immer öfter lese oder höre ich Sprüche von selbsternannten Agitatoren, wie: »Wo ist denn das Virus? Wo sind die vielen Toten?« Und auch ich ertappe mich nahezu täglich dabei, unsere momentane Situation zu hinterfragen, wenn ich spazieren gehe, mir ein Eis hole oder Kinder auf einem Spielplatz sehe. Dieser Anblick erinnert so wenig an all die Filme über den Weltuntergang oder die unzähligen Dystopien und Science-Fiction-Romane. Letztes Jahr schrieb ich PLANET DER ALTEN und hätte niemals gedacht, dass die Essenz davon nur ein paar Monate später Realität sein könnte. Auch in mir ruft heute bisweilen eine Stimme: Stimmt das alles wirklich?

      Die Frage ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. Jahrtausende glaubten wir an Götter, die es für uns schon irgendwie richten sollten. Und heute? Heute sind wir alle so furchtbar aufgeklärt, dass wir nur noch glauben, was wir sehen, fühlen, anfassen können, dabei hoffen wir genauso auf einen Heiland, der uns rettet, uns die Angst nimmt und ein gutes Gefühl verschafft.

      Wir sehnen uns nach dem Verfall, nach dem Armageddon, der Apokalypse, wir sind auf der Suche nach der ultimativen Wahrheit, die uns endlich Gewissheit verschafft, dass wir nicht angelogen werden. Erst, wenn sich jemand aus unserem Umfeld infiziert hat oder stirbt, wüssten wir, dass dieses Virus tatsächlich existiert. Denn nur, was wir mit eigenen Augen sehen, können wir auch begreifen.

      Oder?

      In unseren Köpfen sind Bilder von überfüllten Krankenhäusern, leeren Städten, Leichenbergen wie in OUTBREAK, WORD WAR Z, CONTAGION oder THE WALKING DEAD ... Das sind die richtigen Weltuntergangsszenarien, aber nicht doch unser Alltag. Tief in uns drin wünschen wir uns einen Will Smith, der uns das Gegenmittel in einem Keller zusammenbraut wie in I’M LEGEND. Aber unsere Welt ist kein Blockbuster, wir sind keine Statisten im dystopischen Setting eines Hollywoodfilms, wir können unseren Alltag nicht in hübsche Schubladen sortieren, auf denen Schwarz und Weiß steht. Da ist kein Bruce Willis, der alles wieder geradebiegt und da sind auch keine 12 MONKEYS, die einen Virus erschaffen, um ...

      Ja, warum eigentlich?

      In diesen Tagen höre ich so manche Verschwörungstheoretiker da draußen, die glauben, am Stein der Weisen geleckt zu haben. Bisher habe ich keine Antwort darauf erhalten, wer denn nun die Sieger dieser Pandemie sind, wenn diese Krise doch handgemacht sein soll. Die Politiker? Die Wirtschaft?

      Wer sind die Guten, wer die Bösen?

      Was, wenn es diese Schubladen gar nicht gibt?

      Was, wenn diese Pandemie nicht so schrecklich ist wie die Spanische Grippe, Pest, Cholera und all die anderen Pandemien in der Geschichte der Menschheit? Was, wenn die Wirklichkeit keine actionreiche Darstellung aus Hollywood ist?

      Glück gehabt, würde ich sagen.

      Wir brauchen kein Drama, kein Glitzer, keine überzogene Abbildung, denn unsere Welt ist auch so bisweilen beschissen genug, ansonsten aber bunt und schützenswert. Wir müssen eben nur mal genau hinschauen ...

      © MARI MÄRZ2020

      Diese Kurzgeschichte entstand im Stand-up-Writing meiner Autorenvereinigung #BookBitches. Wir haben unsere Community in den sozialen Netzwerken um fünf Begriffe gebeten. Fünf Wörter, die in allen Geschichten unserer #BookBitchesBox auftauchen werden.

      Hier sind wir jetzt.

      Dies ist meine Story zu

      WATTESTÄBCHEN

      REIZWÄSCHE

      GOLDRING

      STURM

      LEGO

      Eure Mari März

      Isolation kann aus Engeln wahre Teufel machen.

      Aber was ist mit jenen, die bereits Teufel sind?

      Wie viele Tränen kann ein Mensch vergießen? Wann stirbt die Hoffnung, aus deren Grab nichts als Leere wächst? Dieses dunkle Nichts – ich bin in ihm gefangen.

      Da ist nichts mehr außer Angst, aber selbst dieses letzte Gefühl in mir löst sich auf in der Leere. Hoffnungslosigkeit bestimmt meinen Alltag. Niemand ist hier, der mir helfen kann. Keine Familie und auch keine Freunde. Eine Person gäbe es vielleicht, nur ...

      »Schatz, ich bin zu Hause.«

      Ich zittere. Instinktiv. Dabei weiß ich, dass mir diese natürliche Reaktion meines Körpers bisher nichts als Leid gebracht hat. Ein Reflex, der sich nicht abstellen lässt und dem ich schon längst keine Bedeutung mehr beimesse. Axel hingegen schon. Er hasst es, wenn ich zittere.

      So wie jetzt.

      »Was ist denn schon wieder los mit dir? Hast du deine Tage?«

      Er stellt diese Frage seit so vielen Monaten, dabei müsste er eigentlich wissen, dass ich nicht mehr in der Lage bin zu menstruieren. Er hat meinen Uterus zerstört – damals, als der Honeymoon vorbei war und ich die Hoffnung verlor.

      »Wenn du schon den ganzen Tag zu Hause bist, kannst du dich doch wenigstens mal wie eine richtige Frau zurechtmachen!« Sein Blick wandert über meine ungewaschenen Haare, die ausgeleierte Jogginghose. Natürlich könnte ich das. Ich würde mich gern mehr pflegen und für einen Mann hübsch machen, der mich liebt und schätzt. Ich würde auch gern arbeiten, mein eigenes Geld verdienen, ein Handy haben, vielleicht sogar ein Auto, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, Freunde haben, nur ...

      »Und


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