Der Sommereremit. Liesbeth Listig
hatte, sich etablierte, bekam er eine Kriegsversehrtenrente. Hiervon hätte er auch in einer Stadt ein gutes Leben führen können. Rigo zog es aber vor, seinen Lebensstil beizubehalten. Das Leben von und mit der Natur versprach ihm ein wenig Glück.
So brauchte er weiterhin wenig finanzielle Mittel und sein Vermögen stieg über die Jahre zu einem erkläglichen Reichtum an. Kein Außenstehender sah in Rigo Walder einen reichen Mann. Hinzu kam seine geschäftliche Tätigkeit. Außerhalb der Badesaison machte Rigo oft tagelange Wanderungen am Deich oder durch das Watt. Dann sammelte er Treibgut, welches er in dem fast zusammengebrochenen hinteren Teil seines Stalles stapelte. Muscheln, alte Netze, Schiffslaternen und Wrackteile, selbstgegerbte Robbenfelle, von denen man nicht wissen wollte, mit welchen Naturprodukten die Gerbung erfolgt war, waren dort unter viel anderem Kram zu finden. Bei schlechtem Wetter war Rigo dann emsig dabei, aus diesem Trödel mehr oder weniger schöne Souvenirs für die Urlauber zu fertigen. Die Sachen stellte er dann an schönen Tagen wie diesem vor seiner Tür auf dem Hof auf und verkaufte das ein oder andere Stück an vorbeikommende Touristen.
Es kam aber nicht allzu häufig vor, dass außer ein paar Radfahrern auch Fußgänger oder gar Autos vorbei kamen. Der Stall lag weit ab von der nächsten Ortschaft und dem nächsten Badestrand, und mancher Besucher scheute sich auch, dem merkwürdigen Menschen nahe zu kommen. Nur die Neugier und das schaudernde Erbarmen, das Rigos Anblick bei manch einem Menschen hervorrief, veranlasste einzelne dazu, näher zu kommen und eventuell etwas zu kaufen. Das alles störte Rigo nicht. Er freute sich über jedes Gespräch, war er doch nicht auf den Verkauf angewiesen. Aber es freute ihn dennoch, dass der „Grüne Plan“ der Regierung ihm in den sechziger Jahren eine Asphaltstraße vor seinem Domizil beschert hatte, und auch alle anderen Feldwege der Gegend asphaltiert und somit gut mit seinem alten Fahrrad befahrbar waren. Auch einige Urlauber folgten nun häufiger den Wegen hinter dem Deich, und manch einem war ein freundliches Wort oder ein Kauf zu entlocken.
Umgeben von seinen Erzeugnissen saß Rigo gedankenverloren in der Sonne als ein junger Fußgänger in sein Blickfeld geriet. Ein junger Mann in kurzen Hosen, der nicht über die Straße, sondern den Sommerdeich auf die Verkaufsstelle zusteuerte. Rigo war hocherfreut, von einem potenziellen Käufer aus seinen nun immer trüber werdenden Erinnerungen gerissen zu werden. Tatsächlich kam dieser Mensch ohne Scheu schnurstracks auf ihn zu und begrüßte ihn wie man den Krämer von nebenan begrüßen würde. Umgehend zeigte Rigo geschäftig seine Waren und hatte zu jedem Gegenstand eine Geschichte zu erzählen.
Er erzählte von verschiedenen Schiffen, die bei Unwetter oder bereits in den Wirren des Krieges weit draußen in die Sände geraten und nicht mehr freigekommen waren. Dann war Rigo bei gutem Wetter und günstiger Tide hinaus ins Watt gewandert und hatte von einem dieser nicht ungefährlichen Ausflüge unter anderem Kram ein Ankerlicht mitgebracht, welches er von einem Havaristen abgebaut hatte. Dieses war noch komplett erhalten und Rigo hatte es mit Kupferfarbe noch ansehnlicher gemacht. Das Glas war nicht wie bei Positionslaternen rot oder grün, sondern klar und strahlte wie ein Leuchtturm, wenn er das Petroleumlicht darin entzündete.
Des Weiteren erklärte er seinem Besucher appetitlich, wie er zu den Robben und Schafsfellen gekommen war. Wie er den verendeten, tot aufgefundenen Tieren das Fell abgezogen hatte und wie lange es dauerte, bis der Gerbgeruch sich verflüchtigt hatte. Die Geheimnisse des Gerbvorganges gab er jedoch nicht Preis, da sein Besucher bereits etwas angewidert das Gesicht verzog. Verwöhnte Urlauber dachte Rigo und ging zu den nächsten Kuriositäten über.
So hatte er eine uralte, von der Erde geschwärzte Schiffsplanke mit allerlei Muscheln und Seesternen gespickt und lackiert. Mit verschwörerischer Mine und mit immer noch leicht anklingendem, lettischen Akzent, erklärte er dann, dieses Holz stamme aus der nicht weit entfernten Ausgrabungsstelle, wo ein uraltes Wikingerbot im Marschboden, der früher Watt gewesen war, gefunden wurde. Ein hübsches Souvenir. Aber sein Kunde hatte hierfür nicht und auch nicht für die geschnitzten und bunt bemalten Leuchttürme ein Auge. Er wollte nur das Ankerlicht. So ging es nach vielem hin und her der Preisverhandlung für hundertzwanzig Mark an den neuen, überaus zufriedenen Besitzer. Und dieser hinterließ einen noch zufriedeneren Rigo Walder.
Nachdem der Besucher sich verabschiedet hatte, war der Tag so weit fortgeschritten, dass die größte Mittagshitze überstanden und es Zeit für eine spartanische Mahlzeit war. Rigo begab sich in den einzig bewohnbaren Raum des baufälligen Gebäudes, in dem sich sowohl seine Schlafgelegenheit als auch die Küche befand. Seine Schlafstätte bestand aus einer alten Matratze, die auf dem blanken Boden lag. Darüber hing, wohl aus nostalgischen Gründen, ein gerahmtes, verblassendes Führerbild, welches Rigos verlorene Jugend widerspiegelte, jedoch bereits seit vielen Jahren seine Bedeutung für ihn verloren hatte. Es hing dort, wie es auch ein röhrender Hirsch oder Putten mit Sinnsprüchen getan hätten, sinnlos und hässlich an der Wand. Aber irgendwie konnte Rigo es nicht wegwerfen. Wie er auch alle anderen Sachen nicht einfach wegtun konnte. Eventuell konnte es in kalten Nächten noch nützlich sein, nicht mehr um das Herz zu erwärmen, aber eventuell den Körper. Die Feuerstelle war ja nicht weit. So hing das Bild und hing und hing…
Rigo heizte die kleine Herdstelle an und bereitete sich in seiner Blechtasse einen Kaffee, indem er das grob gemahlene Kaffepulver mit kaltem Wasser zum Kochen brachte. Auf ähnliche Weise entstand im Alu-Kochgeschirr ein Nudelsüppchen, welches er mit altem Brot und etwas guter Butter genussvoll zu sich nahm. Nachdem der Kaffee auf Trinktemperatur abgekühlt war, genoss Rigo auch dieses Gebräu bedächtig bis zur Neige. Das heißt, mit dem Kaffeesatz, welcher ja für den Magen bekömmlich sein soll.
In einer halben Stunde würde die Bank im Badeort ihre Siesta beendet haben und wieder in die Nachmittagsprechstunde starten. Das wollte Rigo nicht versäumen. Einmal in der Woche begab er sich aus dem selbstgewählten Eremitendasein hinaus und unter Menschen. Aber nur, um zu erkunden, ob sein Geld gut verwahrt würde, und um etwas einzuzahlen, wollte er die Bank aufsuchen. Auf dem Rückweg dann noch rasch das Nötigste einkaufen, nach der ausgelegten Grundangel sehen, dann wieder nach Hause und nach der Hektik die nötige Ruhe tanken.
Alle draußen aufgestellten Schätze wurden nun schnell in der abschließbaren Wohnstube verstaut. Danach wurde der Drahtesel aus seinem Unterstand geholt. Dieser machte seinem Namen alle Ehre. Das uralte Vehikel hatte Rigo vor Jahren irgendwo „weggefunden“ und notdürftig fahrtüchtig gemacht. Nun trat er in die abgewetzten Pedale. Bei jedem Tritt war ein „I“ und dann ein „A“ zu hören. Ich sollte das gute Fahrzeug mal wieder mit einem fettigen Fischlappen bearbeiten, dachte Rigo noch und machte unter viel I A Tempo.
Der flotte Fahrer fuhr hinter dem Seedeich entlang, vor dem sich der Sommerkoog mit den üppigen Salzwiesen ausbreitete. Dieser war erst vor wenigen Jahren eingedeicht und vorerst mit einem niedrigeren Deich versehen worden, der bei den Herbst- und Winterstürmen häufig überspült wurde. Im Sommer konnten sich jedoch bereits Schafe an den Salzgraspflanzen und bunten Blumen der Salzwiesen laben. Es war ein leichter Sommerwind aufgekommen, der die schweißtreibende Tour erträglich machte.
Rigo fuhr direkt auf „Calais Kneipe“ zu, bog dann scharf rechts in Richtung Heringseck ab und hatte nun die Wahl, zum Badeort hinter dem Deich weiter zu radeln oder die direkte Straße über Land zu nehmen. Die Gemeinde Wesslingdeich hatte auch diesen früheren Feldweg asphaltieren lassen, obwohl zwei entgegenkommende Autos nicht ohne Weiteres aneinander vorbeikamen. Eines musste immer auf die Bankette und somit in die bedrohliche Nähe des metertiefen Entwässerungsgrabens.
Auf dieser Strecke waren aber nicht sehr viele Touristen zu erwarten, wie sie wahrscheinlich hinterm Deich anzutreffen gewesen wären. Auch waren auf der schnurgeraden Strecke, die sich hervorragend für den Volkssport des Bosselns eignete, derzeit keine Bosselbrüder zu sehen. An manchen Tagen wurde häufig die Bosselkugel in Richtung von „Calais Kneipe“ getrieben. Aber das war sicher nur purer Zufall. Folglich wählte Rigo diesen Weg, um rechtzeitig in den Badeort und zur Bank zu gelangen.
I A I A, sang das Fahrrad. Ich sollte es auf jeden Fall nun doch bald schmieren, damit ich nicht so sehr auffalle, dachte Rigo. Vorbei am Wehl beim Rosenhof radelte er. In diesem kleinen See, welcher wie viele andere in der Gegend von einem alten Deichdurchbruch übrig geblieben war, als das Meer an alle Türen klopfte und die eingespülten Wehle hinterließ, hatte Rigo gestern seine Grundangel ausgelegt. Kontrollieren konnte er sie