Der Sommereremit. Liesbeth Listig
kommentierte der alte Mohl diesen Missgriff mit den Worten: „Oh, in düssen Büddel is ja gor keen Moors in.“ (Oh, in diesem Beutel ist ja gar kein Popo drinnen.)
Lachen und Fluchen aller Orten, aber Aale sind auch mit keiner größeren Intelligenz gesegnet und so wurde der Fischzug noch mehrere Male wiederholt und penibel darauf geachtet, dass nicht wieder ein Schlauch statt eines Beutels zum Einsatz käme. Viele Aale hatten wohl zweimal das zweifelhafte Vergnügen, ins Netz zu gehen.
Nachdem auch der kleinere der Wehle seine fettesten Fische preisgegeben hatte und alle Beteiligten abgearbeitet, zufrieden und voll gespickt mit Bremsenstichen durch das Getreide heimwärts trotteten, war für dieses Jahr Ruhe in den Fischgründen eingekehrt. Nur ein paar einsame Angler, die sich von Pferdebremsen nicht entmutigen ließen, versuchten weiterhin ihr Glück.
Aber die Arbeit war noch nicht vollbracht. Während die Urlauber platt wie die Flundern auf und in ihren Betten lagen, gingen Henning und Rigo daran, die Aale zu schlachten und zum Räuchern vorzubereiten. Der alte Mohl und seine Frau Käthe, welche neben der Pension auch eine Dackelzucht betrieb, betrachteten das Werk, als dann rund achtzig Aale auf Stangen gespießt an dem großen Lattenregal auf dem Hof hingen. Auch ein Wurf Dackel, der Schäferhund Rex sowie einige wiedererwachte Urlauber lungerten um die fette Beute herum.
Aber das Gelage um die Räuchertonne herum sollte erst am Abend beginnen. Bis dahin wurden von allen weiterhin die „schönsten Tage des Jahres“ genossen. Rigo wollte mit der abends angesetzten Räucherparty nichts zu tun haben. Die unweigerlich folgende Verbrüderung der dann stark alkoholisierten, schaurigen Gang war ihm zutiefst zuwider und er verabschiedete sich höflich mit der Bitte, ihm einige Aale zu reservieren, die er in den nächsten Tagen abholen wolle.
Der Räucherabend verlief wie von Rigo befürchtet. Neben diversen Aalen, welche frisch aus dem Rauch und fetttriefend am besten mundeten, ging die eine oder andere Kornflasche herum um, das Fett an der Leber vorbei zu schmuggeln. Je Aal eine Daumenbreite aus der Kornflasche waren angesagt und alle hielten sich daran. „Alte Kate“ hieß der destillierte Weizen und irgendein Witzbold hatte mit Kugelschreiber daraus „Alte Käthe“ gemacht und die alte Käthe hielt kräftig mit.
Auf dem Sternhof sahen viele nur noch Sterne und einige, deren Mägen den fetten Aal und den Korn nicht zu würdigen wussten, hatten sich springbrunnenmäßig in Sauer gelegt. Rigo hörte vom lachenden Henning die Aalgeschichte und ließ lieber noch einen Tag ins Land gehen, bevor er sich von Käthe Mohl seinen Arbeitsobolus abholte, zumal er noch seine Fischwilderei zum Verspeisen kühl gelagert hatte.
Die Tage gingen ins Land und bevor die Gutwetterperiode zum Ende kam, hatte Rigo noch etwas Besonderes vor. Die Tide lag günstig, sodass er bereits am frühen Morgen mit dem ablaufenden Wasser ins Watt gehen konnte. Dies war wichtig, da Rigo vorhatte, der Sandbank Blausand weit draußen im Wattenmeer einen Besuch abzustatten. Ein nicht ungefährliches Vorhaben, weil das Erreichen dieser Sandbank über zehn Kilometer Fußmarsch beanspruchte, was in einer Tide nicht zu schaffen war. Die Flut würde ihn auf dem Rückweg unweigerlich einholen und er würde ertrinken, wie es bereits vielen Unwissenden vorher vergönnt war. Rigo würde die Nacht in der dortigen Rettungsbarke verbringen müssen, die einen Schutzraum vorweisen konnte.
Rigo Walder kannte in dieser Gegend jeden Priel. Er kannte tatsächlich jeden dieser mal flachen und mal tiefen Wasserläufe in den Sänden, die die Ebbe zurückließ, und die bei auflaufendem Wasser schon manchem unkundigen Wattwanderer den Rückweg abgeschnitten hatten. Rigo wusste sogar, wenn die Priele sich im Laufe eines Jahres verlagert und ihre Verläufe geändert hatten. Gleichwohl bedurfte das Vorhaben einer umfangreichen Vorbereitung. Denn es war selbstverständlich verboten, eine solche Gefahr auf sich zu nehmen. In früheren Zeiten waren ortsansässige und ortskundige Bauern häufig zur Sandbank gewandert. Der blaue Schlick, dem die Sandbank ihren Namen verdankte, enthielt reichlich Bernstein, nach dem man nicht allzu tief zu graben hatte. Aber der aufkommende Naturschutzgedanke machte allem ein Ende.
Auch Rigo war vom Naturschutz begeistert, hatte aber aufgrund der Erfahrungen einiger Auslandsreisen seine Euphorie gebremst und seine Meinung angepasst, sodass er sein derzeitiges, illegales Vorhaben ohne Gewissensbisse angehen konnte. Rigo suchte seine Sachen zusammen und packte abends noch seinen Rucksack. Nur den Kompass nicht vergessen. Wenn Nebel aufkommen würde, wäre er sonst im Watt verloren. Er würde im Kreis laufen, bis die Flut dem Herumirren ein Ende bereitete. Vier Liter Wasser in Plastikflaschen packte Rigo ein. Wenn er dort etwas länger bleiben müsste, wollte er nicht die Notrationen in der Barke in Anspruch nehmen. Und natürlich etwas zu Essen, selbst fabrizierten, wohlriechenden Sonnenschutz, Taschenmesser und Feuerzeug. Halt, noch Verbandszeug, für den Fall, dass er in eine Muschel treten und sich verletzen würde. Gummistiefel und Spaten wurden noch auf den Rucksack geschnallt und fertig war das Überlebenspäckchen.
Der Morgen kam und Rigo war schnell auf den Beinen, kochte Kaffee und frühstückte ausgiebig. Dann machte er sich auf den Weg. Spätsommerlicher Morgentau in den Salzwiesen auf der Seeseite hinter dem Deich kündigte den Herbst an. Bald wäre ein solches Vorhaben in diesem Jahr nicht mehr möglich gewesen. Dort wo das Siel durch den Deich brach und die Salzwiesen eine Abbruchkante bildeten, betrat Rigo den Wattboden der immer noch recht feucht war, da die Ebbe noch nicht sehr lange eingesetzt hatte. Das Wasser war noch emsig dabei abzulaufen und es gluckste und plätscherte um ihn herum. In weiter Ferne, gerade den Horizont überragend war verschwommen die Barke des blauen Sandes zu erkennen. Rigo fasste sie ins Auge und marschierte los. Er lief barfuß, da er wusste, dass in dieser Ecke nur wenige Muscheln zu zertreten waren und weil die Gummistiefel sicher im wässrigen Schlick des ablaufenden Wassers stecken geblieben wären.
Rigo blickte voraus und gewahrte in der Ferne zwei Gestalten, die etwa eine Meile voraus in einem Priel wateten. Er war nicht allein. Mit der Zeit wurden die beiden Menschlein deutlicher und auch sie hatten Rigo nun entdeckt. Beide winkten vergnügt, als er näherkam. Er kannte das Pärchen, das da bis zu den Hüften im Priel stand. Es waren der Knecht und die Magd vom Rosenhof, die Wohl schon vor ihm den Marsch ins noch feuchte Watt angetreten hatten. „Was macht ihr denn da im Wasser?“ rief Rigo ihnen zu. Die beiden waren mit Keschern, einem großen Sieb und mehreren Beuteln bewaffnet. „Wir fangen uns Krabben und machen Butt petten fürs Mittagessen.“ Sie schoben die feinmaschigen Kescher über den Grund des Prieles und hatten bereits reichlich Krabben in den Beuteln verstaut, die baldmöglichst gekocht werden mussten, um nicht zu verderben. Das Butt petten war eine Kunst für sich. Trat man im Priel auf eine Scholle, musste man auf dem sich bewegenden, zappeligen Plattfisch stehen bleiben. Dieses war wegen der Schrecksekunde nicht einfach. Manch Fisch entkam, aber wenn man standhaft blieb und nach unten langte, hatte man die gute Mahlzeit in Händen. Der Schollenbeutel der beiden war auch nicht mehr leer und so wateten sie aus dem Priel heraus, um den Heimweg anzutreten.
„Du hast den Spaten dabei?“ meinte der Knecht. „So weit draußen Wattwürmer ausgraben? Lass dich nicht auf dem blauen Sand erwischen und viel Erfolg.“ Die drei plauderten noch ein paar Minuten miteinander und zogen dann ihrer Wege. Rigo durchquerte mehrere Priele. Den einen musste er fast durchschwimmen und den Rucksack auf dem Kopf balancieren. Auf der anderen Seite war eine Muschelbank und Rigo war froh, dass er die Gummistiefel dabei hatte. Also die Füße kurz gewaschen und vom Schlick befreit und dann mit den bloßen Füßen in die Stiefel, um das einschneidende Hindernis zu überwinden. Dahinter war das Watt bereits fast trocken. Rigo zog die Stiefel wieder aus und genoss die kostenlose Fußsohlenmassage, die ihm das von den Wellen geriffelte Watt zukommen ließ.
Die Barke des blauen Sandes erschien kaum näher als vor einigen Stunden, aber wenn Rigo zurückblickte war die Deichlinie fast am Horizont verschwunden. Es musste bald Ebbe sein und wenn dann die Tide kenterte, würde das Wasser wieder auflaufen. Leichter Wind, der wohl das baldige Ende der Gutwetterperiode ankündigte, kam auf. Rigo beeilte sich und nun kam die Barke rasch näher.
Er hatte es geschafft. Die eiserne Leiter war ein willkommener Halt in der Einsamkeit des weiten Wattenmeeres. Rigo erklomm die wohl fünfzehn Meter bis zu der mit Riegeln gesicherten Tür des Rettungsraumes, öffnete diese und warf seinen Rucksack hinein. Dann kletterte er selbst hinein und sperrte die ihm nicht wohlgesonnene Umwelt vorerst aus, um sich von dem Marsch zu erholen und etwas zu Essen und vor allem zu trinken. Nach einer Weile zog es ihn hinaus, um endlich seiner