Nur eine Petitesse. Anja Gust
auf. Der Gedanke an eine legale Begründung des leidigen Sparzwanges erhellte für Momente Heinigs schwammiges Gesicht, auch wenn das nichts bedeuten musste. Immerhin war der Doktor für seine schnellen Gemütswechsel bekannt und die Gefahr eines Rauswurfs nicht gebannt. Dennoch schöpfte der Opponent neuen Mut.
Während diese Idee für Dr. Heinig eine höchst fragwürdige Schnurre blieb, wovon er natürlich im Ernstfall nichts wissen durfte, nahm sie für Julius durchaus Gestalt an. Notfalls würde er dafür sogar einiges riskieren. Um die Verbissenheit oder genauer Borniertheit dieses Herrn Schneeweiß zu begreifen, ist es notwendig, seine Person etwas näher zu beleuchten.
Julius Schneeweiß war der Spross einer Herumtreiberin, die lieber ihren Joint rauchte, als sich der Erziehung ihres Kindes zu widmen. Jahrelang tingelte sie durch das Land, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Dieses offenbarte sich just in einem bärtigen Aussteiger, mit dem sie dann tagelang verschwand und ihren Sohn seinem eigenen Schicksal überließ. Es gab nichts, woran sich der kleine Julius orientieren konnte. Keine Regeln, keine Zuverlässigkeit und kein wirkliches Zuhause. Sein Leben hing in der Schwebe und folgte in seinem Verlauf allein dem Zufall. Ganz zu schweigen von den mütterlichen Gemütsschwankungen, bis ihn seine Mutter eines Tages an einem Rastplatz einfach ‚vergaß‘.
Die Wirtin der nahegelegenen Schänke ‚Heilig Spätzle‘ bemerkte den Siebenjährigen am Abend zum Schichtwechsel. Als er am nächsten Morgen noch immer mit dem dreckigen Stoffbären im Arm auf der Bank saß und die Beine in der Luft baumelten, nahm sie sich seiner an. Als fünftes Kind war er seitdem in der familiären Wirtschaft geduldet, aber nicht beliebt. Schließlich galt es, ein Maul mehr zu stopfen. So wurde er zeitlebens herumgestoßen. Ohne Halt im Leben wuchs er, taumelnd wie ein Stück Treibgut auf stürmischer See, heran.
Allein die Hausherrin wachte über sein Wohl. Wenn sie wegschaute, gab es eine feste Rangordnung unter den Geschwistern, an dessen Ende stets Julius stand. Die Folge war, dass er des Öfteren grundlos den ledernen Gürtel des Wirtes zu spüren bekam und bald nicht mehr zwischen gut und schlecht unterscheiden konnte. Obwohl man ihm bereits im Kindesalter eine schizoide Neurose attestiert hatte und er die Oberstufe später mehr schlecht als recht absolvierte, drängte ihn der Ziehvater zum Militärdienst. Widerstrebend kam Julius diesem Wunsch nach und verpflichtete sich in der Armee als Unteroffizier.
Jedoch kam er mit den dortigen Gepflogenheiten nicht klar. Vor allem litt er unter dem Ruf des ewigen Rotarsches, weshalb er vorzeitig seinen Abschied nahm. Damit fiel er zu Hause in Ungnade, sodass er sich dort bald nicht mehr blicken lassen konnte. Daraufhin hatte er sich ein Zimmer im Dorf genommen, begann zu trinken und trieb sich in Spelunken herum. Nicht selten kam es zu Streitereien, in deren Folge er in arge Bedrängnis geriet. Nach einer mörderischen Zechtour, die ihm fast das Leben gekostet hätte, besann er sich und nahm ein Wirtschaftsstudium an einer Privat-Akademie auf.
Überraschenderweise überzeugte er mit einem glänzenden Abschluss zur Bedeutung von Risikoanlagen im Zuge der dualen Marktstrategie. Dafür erhielt er von der Akademie viel Lob und trug seither die Nase ziemlich hoch. Fortan hielt er sich für unfehlbar und führte sich auch so auf. Woher er das Geld für die Studiengebühren nahm, blieb allerdings unklar. Man munkelte von einem ergaunerten Honorar für eine Auftragsarbeit unter Verwendung fremden geistigen Eigentums.
Zwar geschah das derart verklausuliert, dass es ihm nicht richtig nachgewiesen werden konnte, aber der Makel des Unseriösen haftete ihm seitdem an. Dennoch wurde er wohlwollend im Kempinski aufgenommen. Seitdem zeigte er dort eine krankhafte Arbeitswut, die oftmals Ärger und Verwunderung gleichermaßen auslöste.
Neuerdings neigte er allerdings zu selbstherrlichen Allüren und überschritt nicht selten seine Kompetenzen. So erdreistete er sich allen Ernstes, in den Hotelzimmern kleine ‚sehende‘ Uhrenspione auf den Nachttischen zu platzieren. Mit dieser Art verdeckter Beobachtung gedachte er, die Loyalität und Zuverlässigkeit der Mitarbeiter vor Ort zu überprüfen.
Sagte er sich: Wo kein Kläger, da kein Richter – solange niemand davon wusste. Der Begriff ‚Gewerkschaft‘ war im hiesigen Bereich ohnehin ein Fremdwort. Endlich konnte man das leidige Problem der stichprobenartigen Taschenkontrolle optimieren. Ob es Heinig passte oder nicht – der Erfolg würde ihm, Julius, Recht geben. Ihn frustrierte ohnehin schon lange das quälende Gefühl einer chronischen Unterforderung. Da sein Herz aber an diesem ‚Saustall‘ hing (wie er das Hotel bisweilen nannte), gab es weiß Gott Mittel und Wege, gewisse Dinge auch ohne Heinigs Zustimmung zu regeln. Und wenn der Direktor bei seinem täglichen Rundgang unbedingt die Mannschaft auf Strecke bringen musste, sollte er zumindest seinen Schrittzähler neu eichen.
Während Schneeweiß, in seinem Drehsessel lümmelnd, den Monitor betrachtete, der gleich mehrere Zimmer in wechselnden Sequenzen zeigte, blieb sein Blick an einer Amazone haften, auf die er schon lange ein Auge hatte. Dabei handelte es sich um die Angestellte Rosanna Schönleitner. Erst kürzlich hatte er sie wieder für den ‚Room Dienst‘ einteilen müssen, nachdem sie durch einen Eklat im Gaststättenservice aufgefallen war. Aber solch ein Ding konnte er nicht durchgehen lassen. Da kannte er nichts.
Prompt schärfte er seine Konzentration und folgte interessiert jeder ihrer Bewegungen, denn sie hatte eine fabelhafte Figur. Da gab es nichts zu meckern. Vor allem ihr Steiß hatte es ihm angetan. Kein Wunder, dass er jetzt förmlich am Monitor klebte und verzückt die Finger küsste. Nur das hotelverordnete Dirndl mit der weißgeschnürten Bluse, aus dessen Ausschnitt ihr Busen geradewegs herausquoll, missfiel ihm. Auch wenn sie daran schuldlos war, wirkte das unanständig und billig. Leider hatte er zur, von „oben“ angeordneten, Dienstbekleidung (noch) kein Stimmrecht. Sonst wäre diese alberne Tracht als solche längst abgeschafft. Doch was war das? Schlagartig erstarrte er.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, entfuhr es ihm erbost, als er bemerkte, wie sie von einer angebrochenen Seltersflasche auf dem Nachttisch trank. Mit fahriger Handbewegung verscheuchte er den Kater vom Schoß und zoomte das Bild heran. Und siehe, als könnte er ihre Gedanken erahnen, ging sie zum Schminktisch hinüber. Dort nahm sie einen Flakon aus der Kulturtasche des Hotelgastes und sprühte sich etwas Parfüm auf ihre rosaschimmernde Haut.
Julius bekam den Mund nicht mehr zu. Das war ja unerhört! Unmittelbar darauf klaubte sich Rosanna eine Banane aus dem nahestehenden Obstkorb. Langsam schälte sie diese und biss zaghaft hinein. Schneeweiß griff sich unwillkürlich an den Hals und stellte eine perverse Assoziation her, die ihn völlig kirre machte. Als sie sich zudem noch mit fremder Schminke die Wimpern verschönerte, biss er sich in die Faust, um einen Schrei zu unterdrücken. Dann aber sprang er auf und ballte die Fäuste. „Wart’s nur ab, du Luder. Dir werde ich helfen!“
Keine drei Minuten später passte er die Übeltäterin im Flur in Richtung Fahrstuhl ab. Aufgepeitscht wie er war, hatte er sich schon einiges zurechtgelegt. Doch als er vor ihr stand und sie ihn ganz erschrocken von unten herauf anschaute, war alles wieder weg. Seine Knie wurden weich, seine Stimme begann zu versagen, und er hatte plötzlich ein saudummes Gefühl. „Nanu? Schon Feierabend?“, war das Einzige, was er herausbrachte und das noch ziemlich schnodderig.
„Warum nicht? Es ist sechzehn Uhr“, erwiderte sie dreist und sah ihn verwundert an.
„Tut mir leid, bei mir ist es gerade fünf vor“, korrigierte er sie sofort recht barsch. „Oder gehen Sie immer überpünktlich?
„Was für eine Frage … Natürlich nicht. Aber falls es Sie beruhigt, ich habe heute fünf Minuten früher begonnen.“
„Tatsächlich? Dann sollten wir wohl künftig Stechuhren einführen“, spöttelte Julius.
„Ja. Das wäre vielleicht angebracht“, meinte sie gleichmütig. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen.“ Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, doch er stellte sich ihr weiterhin in den Weg.
„Was soll das, Herr Schneeweiß?“ Rosanna wich einen Schritt zurück.
„Wieso? Was soll was?“
„Sie wirken so … aufgedreht.“
„Finden Sie?“
„Ja.“
„Nun ja, wenn Sie so angenehm duften, könnte man glatt