Nur eine Petitesse. Anja Gust

Nur eine Petitesse - Anja Gust


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      „Wie meinst du das?“

      „Nun ja … Wie soll ich sagen … Seine Bemerkung klang … anders. Irgendwie … mehr wie eine Ermahnung oder besser Erpressung! Es war entsetzlich.“

      „Ach, herrje“, folgerte Maurice mit düsterem Blick. „Geht das schon wieder los? Wenn er es zu weit treibt, sag Bescheid und ich lasse mir was einfallen.“

      „Es ist ja nichts passiert.“ Umgehend beruhigte sie ihn und bereute ihre Leichtfertigkeit.

      Beiläufig betrachtete sie die vorbeifliegende Landschaft. Ab und an blinzelte die Sonne zwischen den Wolken hindurch. Zu ihrer Rechten lag eine kleine Kirche, die von einem niedrigen Gitterzaun umfriedet war. Jenseits des Gitters lagen die Gräber unter hohen Bäumen, die das abschüssige Gelände verschatteten. Sie verfolgte einen kopfsteingepflasterten Weg. In der Ferne durchschnitten Kiefern die Landschaft bis zu den ersten Gebirgsausläufern. Hoch oben glichen die Schneereste vom Himmel gefallenen Wattebäuschen. Noch war nicht zu erahnen, was der Winter bringen würde.

      Maurice entging ihr Kummer nicht. Dennoch würde sie ihn niemals damit belasten. Dazu war sie viel zu stolz. Lieber litt sie still vor sich hin. So war es schon immer. Dieser Konsorte Schneeweiß war in sie verknallt und würde nicht lockerlassen, bis er am Ziel wäre. Doch soweit durfte es niemals kommen. Dafür würde er sorgen. „Ich hätte da eine Idee“, stieß er plötzlich euphorisch aus.

      Verwundert sah ihn Rosanna an. „Was meinst du?“

      „Du erinnerst dich sicher an die Frau, die dir neulich beigestanden hat – Frau Antonelli aus Zürich. Ich war mit ihr gestern in den Bergen. Sie scheint mir ein anständiger Mensch zu sein. Wenn sie sich über deinen Verehrer beschwert, könnte das wie eine Bombe einschlagen. Heinig duldet keinerlei Schwächen. Vielleicht käme ihm das gut zupass. Er findet seinen Prokuristen ohnehin unausstehlich.“

      „Nicht nötig! Ich komme mit der Situation schon klar“, wiegelte Rosanna ab.

      Doch Maurice ließ nicht locker. „Ich glaube, wir können ihr vertrauen.“

      „Mir gefällt das nicht.“

      „Warum nicht? Schneeweiß ist ein Drecksack und hat nichts anderes verdient!“

      „Ich weiß nicht“, wich sie unsicher aus.

      „Ich werde Frau Antonelli um diesen Gefallen bitten. Sie wird es für uns tun. Ich weiß es.“

      „Du kannst doch diese Frau damit nicht belästigen!“

      „Sie würde uns aber helfen.“

      „Woher willst du das wissen?“

      Maurice errötete. „Ich weiß es eben.“

      Plötzlich meinte Rosanna, ihren Bruder nicht wiederzuerkennen. Seine Euphorie verblüffte sie. „Sag mal, wie kommst du nur darauf?“

      „Versteh doch – es ist eine günstige Chance“, ereiferte er sich sogleich.

      Doch seine Schwester wollte davon nichts hören. Julius Schneeweiß rangierte in der dortigen Hierarchie ohnehin nur weit unten und sein Einfluss war gering. Schon deshalb wäre es unklug, sich erneut mit dem Management zu überwerfen. Im Grunde war er nichts weiter als ein bedauernswerter Einfaltspinsel, der in ihrer Gegenwart große Nervosität zeigte. Im Bestreben, mehr zu erreichen, überzog er des Öfteren und machte sich damit lächerlich. Wenn er es merkte, wurde er unsicher und wirkte noch wunderlicher. Kurzum – er war nichts weiter als ein unbeholfener Kauz.

      Inzwischen waren sie am väterlichen Hof angekommen. Dieser befand sich etwa zehn Kilometer von St. Moritz entfernt auf einer einsamen Anhöhe. Die Einsamkeit war hier bewusst gewählt, denn nichts wäre für einen eingefleischten Eigenbrötler wie Urs Schönleitner tödlicher als ständig quengelnde Nachbarn.

      Widerwillig öffnete Rosanna die Beifahrertür. Gerade als sie dem Wagen entstiegen war, stürmte ihr Hofhund Rufus entgegen. Mit seinen fünfzig Kilo war er ein echter Radebrecher von Bernhardiner und sie hatte alle Mühe, ihren einstigen Liebling zu beruhigen. Draußen an der Werkbank dengelte derweil Vater Urs die Sense, ohne sie im Mindesten zu beachten.

      Sie hatte ihren Vater lange nicht gesehen und stellte fest, dass er stark gealtert war. Tiefe Falten zerfurchten sein sonnengegerbtes Gesicht und die kleinen Augen waren von zahllosen Runzeln umfurcht. Obwohl erst Mitte sechzig, wirkte er gute zehn Jahre älter. Aber seit Mutters Tod ließ er sich gehen. Selbst sein grauer Vollbart reichte ihm mittlerweile bis auf die Brust.

      „Grüezi. Alles Gueti zum Geburtstag“, begrüßte ihn Rosanna nach Landesart, ohne dass der Vater etwas erwiderte. Während Maurice den Wagen wendete und neben dem Hanomag-Schlepper einparkte, durchkramte sie ihre Handtasche und legte eine Tafel Schokolade auf den Tisch. Der Alte schwieg weiterhin beharrlich. „Für dich. Bitte schön“, versuchte Rosanna es nochmals und stellte eine Flasche Morand Abricotine hinzu.

      „Schließ lieber den Blusenknopf, oder willst du dich erkälten?“, bemerkte der Vater beiläufig. Es klang wie eine seltsame Mischung aus Bewunderung und Verachtung, wie sie nur ein verknöcherter und verschrobener Bergbauer seines Schlages beherrschte. Im Grunde hatte sie nichts anderes erwartet. Im Gegenteil, sie konnte froh sein, wenn er überhaupt mir ihr redete.

      Doch seltsam. Während Rosanna diese als Ohrfeige gemeinte Frechheit reglos hinnahm, ließ sie die vom Vater beabsichtigte Erschütterung völlig kalt. ‚Herrgott, jetzt kann ich ihn nicht einmal mehr hassen‘, dachte sie und war über sich selbst erstaunt.

      Früher gefiel sich seine Tochter in der Rolle der Gekränkten, bockte schnell und wehrte jeden Versöhnungsversuch ab. Obwohl sie selbst am meisten darunter litt, zahlte sie es ihm mit ihrer offen zur Schau getragenen Gleichgültigkeit heim. Seither kam sie nicht mehr davon los.

      Mit verkniffenen Lippen ging sie direkt in die dunkle Küche. Benommen betrachtete sie den alten Steinofen und den Küchentisch, an dem ihre Mutter tagein tagaus gestanden hatte. Hier fühlte sie sich ihr unglaublich nah. Anna Schönleitner war eine energische Frau gewesen und wusste sich in schwierigen Lagen zu behaupten. Zu Lebzeiten war sie der eigentliche Herr im Haus. Anders als der Vater bewies sie in vielen Dingen eine erstaunliche Festigkeit. Zudem verfügte sie über die Gabe der Großmut. Sie konnte lachen und verzeihen und verstand es, ihrer Tochter die Wärme zu geben, die ihr der Vater verweigerte.

      An jenem Tag, als Rosanna ein letztes Mal die Mutter im Licht einer schummrigen Lampe sah, bat diese ihre Tochter, immer brav zu sein. Der Vater liebe sie auf seine Weise. Das nachfolgende Versprechen fiel ihr schwer, da sie bereits den Wortbruch ahnte.

      Es war gut, dass die Bäuerin das jetzige Zerwürfnis nicht mehr erleben musste. Der Vater hatte den Verlust seiner Frau bis heute nicht verkraftet und verfiel oft in tagelanger Trübsal. Regelrecht apathisch starrte er dann stundenlang vor sich hin. Mit dem Finger zeichnete Rosanna jetzt die Maserung der Eichenplatte nach. Es war Mitte Juli. Trotzdem war ihr kalt. Auf einmal schmeckte ihr Speichel säuerlich.

      Im Rahm einer Milchflasche kämpfte eine Fliege um ihr Leben. Prompt nahm Rosanna einen Holzlöffel aus der Tischschublade, fischte das Insekt heraus und trug es zur Tür. Kraftvoll schlug sie den Löffel aus. Dann blieb sie im Türrahmen stehen und schaute in Richtung des Weinspaliers, bis sich ihr Blick in der Ferne verlor.

      Sicherlich, das Leben in den Bergen war nicht einfach. Auf die Fliegen des Sommers folgten die Eisblumen des Winters. In den wärmeren Monaten vermischte sich der würzige Geruch zahlloser Alpenkräuter mit dem kräftigen Duft der Tannen, welche das Ende der Baumgrenze markierten. Rosanna schaute durchs Fenster auf das majestätische Gebirge mit seinen kahlen Felsen, durchbrochen von blau-weißen Gletscherzungen.

      Es war eine weite Fläche, leer und windzerfurcht. Hoch oben war es gefährlich. Auf den ungesicherten Pisten drohte man schnell, auf ein Schneebrett zu treten und in eine Spalte einzubrechen. Trotz Warnungen wagten sich immer wieder unerfahrene Touristen dort hinauf, ohne den Blick für Veränderungen im Schnee, Verformungen der Felsen und vor allem ohne Respekt vor dem Berg. Nie im Leben würde Rosanna freiwillig hinauf zu den Fallwinden gehen.

      Während


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