Fontanka. Markus Szaszka

Fontanka - Markus Szaszka


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ihn.

      »Oh! Das hast du nicht getan!?« Polina schleuderte die Flasche mit all ihrer Kraft gegen die Rutsche und das Glas zersprang in viele Scherben. Er sah sie verwundert an und wollte etwas sagen, da verpasste sie ihm noch eine Ohrfeige.

      »Scheiße, okay, okay. Ich geh ja schon. D-du bist ja verrückt.«

      Nachdem er gegangen war, zitterte Polina noch immer vor Wut und sah ihm nach, bis er außer Sichtweite war. Auch wenn Anna schon gehen musste und ihre Mutter nicht mehr nur hinter dem geschlossenen Fenster stand, sondern es aufgemacht hatte, auf dem Fensterbrett lehnte und die Szenerie genau beobachtete, blieb sie noch ein bisschen und umarmte ihre Freundin wie zuvor.

      »Danke. Das tut gut.« Polinas Zittern legte sich und zum Dank gab sie Anna einen Kuss auf die Wange.

      »Anuschka! Nun komm doch! Deine Wareniki werden kalt!«

      »Ich komme!«, rief das Mädchen mit dem Stoffbärchen nach oben und wandte sich wieder zu Polina. »Möchtest du mitkommen? Es gibt sicher genug für uns alle.«

      »Nein, danke. Lass mal. Ich gehe lieber nach Hause und warte auf diesen Idioten. Außerdem habe ich nach dem Kuchen eh keinen Hunger. Aber ich muss auf meinen Bruder aufpassen, weißt du?«

      »Ja, ich weiß. Dann bis morgen in der Schule.«

      »Ja, bis morgen.«

      Anna lief zu ihrem Block und Polina ging zurück zu den Schaukeln, wo sie noch eine Weile saß, bevor sie nach Hause ging.

      *

      Es kam vor, dass Anna und Polina sich nach der Schule treffen und länger Zeit miteinander verbringen wollten, als bis um sechs Uhr, wenn das alltägliche Abendessen angesetzt war. Das Recht, länger draußen bleiben und sich auch außerhalb des Hofs befinden zu dürfen, mussten sie sich allerdings mühsam erkämpfen. Ohne Quengeln ging das nicht. Es war ein Gezerre zwischen jugendlicher Neugierde und übervorsichtigen Erfahrungswerten.

      Erst wollten die beiden Mamas nicht zustimmen, also bedienten sich die Mädchen zweier höchst effektiver Werkzeuge ihres Alters; des unaufhörlichen Nörgelns und zaghaften, doch sukzessiven Überschreitens der aufgestellten Grenzen.

      Manchmal gelang es Anna und Polina sehr gut, sich davonzustehlen, erst nur außer Sichtweite, also weg vom Hof und auf die andere Seite einer der vier Blockbauten, dann schon weiter weg, zum Beispiel zur nächstgelegenen Hauptstraße, der Pribrezhnaya Straße. Dort befanden sich zahlreiche Geschäfte, etwa ein Supermarkt, eine Bäckerei, ein Eisladen, ein Stoffladen und weitere Detailgeschäfte, und die Mädchen hatten es sich zum Ziel gesetzt, jedes einzelne dieser Geschäfte zumindest einmal zu besuchen.

      Wenn solche Ausflüge problemlos verliefen und die Mädchen nicht allzu spät zu Hause waren, bekamen sie keinen Ärger. Dann mussten sie sich höchstens ein paar erzieherische Kommentare anhören. Wenn aber etwas Außerplanmäßiges geschah, zum Beispiel Anna ihre Schlüssel zu Hause vergaß, was ihr immer wieder passierte, und sie deshalb nach einer Regelbrechung von ihrer Mutter von unten raufgeholt werden musste, weil das elektrische Türschloss defekt war, dann drohten zeitlich begrenzte Ausgehverbote.

      Oder einmal, als Anna aufgebracht und weinend heimgekommen war, weil ein Obdachloser die beiden Mädchen forsch angeschrien hatte, da hatte es auch Konsequenzen gegeben; eine Woche Spazierverbot. Dabei hatte Anna dem älteren, nach Schweiß und monatelang ungewaschenem Gewand stinkenden Herrn lediglich angeboten, dass sie ihm gerne ein Stück Kuchen von zu Hause holen könne, weil sie kein eigenes Geld besäße, aber das hatte ihn nur noch wütender gemacht.

      Nach solchen Vorfällen wurden Anna und Polina ermahnt, dass sich von nun an einiges ändern würde und sie in Zukunft wirklich im Hof bleiben sollten, damit nichts Schlimmes passieren konnte. Das taten sie dann auch, zumindest für ein paar Tage oder höchstens eine Woche. Danach fingen die zaghaften Grenzüberschreitungen wieder von vorne an: Das Verschwinden hinter einem der Wohnhäuser, das Spazieren zu einem der Läden an der Hauptstraße oder, wenn sie sich besonders verwegen fühlten, ein Ausflug hinter den östlichen der vier Blocks, über die Rybatskiy Allee, wo sich ein kleiner Park direkt an der Newa befand.

      Da Anna im westlichen Block wohnte und Polina im nördlichen, ihre Mütter theoretisch also eine gute Sicht auf die Ausreißerinnen hatten, wenn sie nach Osten hin ausbüxen wollten, mussten sie sich in diesen Fällen besonders geschickt anstellen. Sie konnten nicht auf direktem Wege, zwischen Block Nord und Block Ost beziehungsweise zwischen Block Ost und Block Süd davonspazieren. Das wäre zu frech gewesen, sollte eine der beiden Mütter gerade aus dem Fenster sehen. Stattdessen war es die bessere Taktik, erst ein bisschen auf dem Spielplatz rumzulungern, dann hinter einem der „Mütter-Blocks“ zu verschwinden und sich von dort aus an die Newa zu beeilen, um den Bogen nicht vollends zu überspannen.

      Diese Vorsichtsmaßnahmen waren notwendig, da der Park an der Newa tabu war, noch mehr als die Pribrezhnaya Straße oder sonstige Gegenden rundherum. In letzter Zeit waren es nämlich zunehmend mehr Verarmte, Bettler oder Trinker, die sich laut Dora in ihrem Bezirk breitmachten, weshalb man nicht vorsichtig genug sein konnte. Und der Park an der Newa, der unter diesem Namen auf jeder Stadtkarte zu finden war, war Doras Meinung nach der gefährlichste Ort in ihrer Umgebung.

      Tagsüber ging es noch, aber abends trafen sich dort die vielen Armen, die Verzweifelten, also die besonders bemitleidenswerten Exemplare der Unsichtbaren. Und dort tranken sie dann gemeinsam ihren Billigfusel, debattierten über die Missstände in ihrem Land und lachten hin und wieder unnatürlich hysterisch auf, wenn sie den heilsamen Moment des Alkohols erwischten.

      »Die Menschen haben keine Arbeit mehr, keine Beschäftigung, und deshalb kommen sie auf komische Gedanken. Sie sind unzufrieden, das ist doch kein Wunder, denn sie haben doch nichts. Und dann werden sie neidisch… und gefährlich«, hatte Feodora einmal zu ihrer Tochter gesagt. Und weiter: »Was machen sie denn den lieben langen Tag? Sie trinken sich die Rüben weich. Und das ist sogar noch gefährlicher.«

      Alles in allem waren diese Grüppchen harmlos, aber sie ließen die Stadt zerlumpter aussehen, als sie es ohnehin schon war. Ein Jammer, dachten die Bürger, die sich ein selbstloses Denken noch erlauben konnten. Würden sich die Politiker ein bisschen besser um unsere Stadt kümmern, würde es hier so schön wie in Wien aussehen. Oder schöner.

      In den Nachrichten predigten sie immer wieder, dass es den Russen besser denn je gehe, dass es im Ausland viel schlimmer als zu Hause sei, beispielsweise in Deutschland, wo Ausländer die Städte überrannten und die Menschen nicht mehr sicher waren. Über so etwas sprach man natürlich, auf den Straßen, über Geschäftstheken hinweg und in der Arbeit, aber kaum einer glaubte den Sendern noch – zumindest wenn es um die Zustände im eigenen Land ging. Aber freilich, besser war es in Russland vielleicht schon als in manchen europäischen Ländern, denn arm zu sein, das war eine Sache, aber ständig in Furch vor den Arabern leben zu müssen, das war ein ganz anderes Paar Schuhe. Und wenigstens das würde Präsident Wladimir Wladimirowitsch Nikitin niemals zulassen, waren sich alle einig. Wenigstens etwas.

      Obwohl Feodora ihre Anna und Polina explizit und mit Nachdruck vor dem Park an der Newa gewarnt hatte, wussten die Mädchen überhaupt nicht, was die Aufregung sollte. Sie nahmen den Park ganz anders wahr, nämlich als etwas Schönes, Abenteuerliches und Behagliches. Das eine Grüppchen mit den Trinkern und das andere mit den nüchternen Armen bemerkten sie kaum, denn in ihrer Welt spielten andere Dinge eine wichtigere Rolle.

      Entweder flanierten sie über die Wege des Parks und am Ufer der Newa, dann fühlten sie sich wie in einem Film über das viktorianische England, oder sie verbuddelten eines ihrer alten Spielzeuge, damit sie irgendwann wieder nachsehen konnten, ob es noch immer da war, oder sie spielten Prinzessinnen, und dann stellten sie sich den Park als ihren Garten vor. Manchmal beobachteten sie Händchen haltende oder kuschelnde Pärchen und mussten schmachten. Das wollten sie auch einmal haben, ohne genau zu wissen, weshalb eigentlich.

      Eines warmen, frühherbstlichen Septemberabends, während eines ihrer verbotenen Ausflüge auf die andere Seite der Rybatskiy Allee, spazierten sie am Fluss entlang und plauderten darüber, welche Namen ihre Pferde hätten, wenn sie Prinzessinnen wären. Da hörten sie Iwan gutgelaunt nach ihnen


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