Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
ganz alleine da heraustragen?«
»Nein. Ich bin doch nicht blöd. Ich will mich nur davon überzeugen, dass es dieses Wunderwerk auch wirklich gibt. Dann wollte ich es verkaufen, weil nur ich, so glaubte ich, weiß, wo es sich genau befindet. Der Käufer soll dann sehen, was er damit anstellt.«
Antilius seufzte. Was ihn am meisten bei der Geschichte von Haif störte, war, dass es nun noch mehr Leute auf Thalantia gab, die von dem Zeittor wussten oder zumindest daran glaubten, dass es existieren würde.
»Also gut. Du wirst uns begleiten. Wenn du uns zum Tor führen kannst, dann finden wir vielleicht auch Brelius.«
Er und Pais machten sich ohne weitere Kommentare wieder wanderbereit, doch Haif war damit überhaupt nicht einverstanden. »Einen Augenblick bitte! Wer hat denn gesagt, dass ich euch den Geheimgang verraten werde, geschweige denn zum Tor führen werde? Macht mir ein Angebot, und dann bin ich auch bereit, über den Preis zu verhandeln!«
Pais, der gerade dabei war, seine Armbrust wieder in seinem Reisebeutel zu verstauen, begann mit entschlossener Miene, sie wieder auszupacken.
Dies überzeugte Haif. »Also gut. Dann eben umsonst.«
»Keine Tricks, sonst ziehe ich dir das Fell über die Ohren und zwar im wahrsten Sinne des Wortes«, drohte Pais.
Gilbert kicherte kurz, weil er diesen Witz, sofern es denn einer sein sollte, urkomisch fand. Wer Pais aber besser kannte, der wusste, dass es kein Witz war.
»Gehen wir«, sagte Antilius und schritt voran.
Der Mythos vom Transzendenten
Am darauf folgenden Abend erreichte die kleine Reisegruppe endlich das Ende des letzten Waldes, den es in Richtung Süden gab. Vor ihnen erstreckte sich eine grasbewachsene Endmoränenlandschaft, auf der nur vereinzelt Bäume wuchsen.
Sie schlugen ihr Nachtlager auf. Haif hatte keine Probleme damit, sich ungefragt von den Rationen von Pais und Antilius zu bedienen.
Es war fast dunkel, und Antilius war furchtbar müde.
»Was weißt du eigentlich noch über dieses Zeittor?«, wollte er trotz seiner Erschöpfung von Haif wissen.
»Es gibt viele Mythen, die sich um das Zeittor ranken«, sprach der Sortaner geheimnisvoll.
»Erzähle uns einen«, forderte Pais ihn auf.
»Ein Mythos berichtet vom Transzendenten.«
»Was soll das denn sein?«, fragte Gilbert neugierig.
»Es war ein Wesen, das vor vielen Hundert Jahren hier auf den Inselwelten sein Unwesen trieb. Es war angeblich unsterblich, unbesiegbar, und es beherrschte Zeit und Raum. Sein einziger Wille war, zu unterdrücken und zu zerstören. Es tyrannisierte viele Jahre lang die Bewohner der Inselwelten.«
»Woher kam es?«, fragte Antilius etwas skeptisch.
»Das weiß wohl niemand so genau. Wie ihr wisst, gibt es nur wenig, das wir aus der Zeit der Könige und dem Zeitalter unmittelbar danach wissen, weil praktisch keine Aufzeichnungen mehr existieren.«
»Und was hat dies mit dem Zeittor zu tun?«, fragte wieder Gilbert gespannt.
Haif ließ sich einen Augenblick Zeit, um die Spannung etwas zu heben. Dies schien er sichtlich zu genießen. »Die Bewohner der Inselwelten beschlossen, nach Jahren der Tyrannei den Transzendenten zu vernichten. Ein kleiner Mönchsorden schmiedete daraufhin einen Plan, der sogleich in die Tat umgesetzt wurde. Sie bauten ein Portal, das den Transzendenten wieder dorthin schicken sollte, wo er hergekommen war.«
»Etwa das Zeittor, nach dem wir suchen?«, fragte Gilbert aufgeregt.
»Nein, lass mich ausreden! Mit vereinten Kräften bauten die Inselbewohner das gewaltige Portal und zwar genau dort, wo heute die Ahnenländer liegen. Es gelang ihnen, dem Transzendenten eine Falle zu stellen, indem sie ihn in das Portal lockten und dort vernichteten. Doch es lief etwas schief. Der Transzendente wurde zwar getötet, doch seine übernatürliche Kraft und Bosheit wurden auf das Portal übertragen. Die Macht des Transzendenten kann nicht vernichtet werden, sodass es den Bewohnern nicht mehr gelang, auch das Portal zu zerstören, weil es diese Macht von nun an in sich trug.
»Und dann?« Gilbert klebte an seinem Spiegel.
»Es war ihnen jedoch möglich, das Portal mithilfe eines speziellen Schlüsselsteins zu versiegeln und in zwei Teile zu zerlegen. Zwei Tore.«
Antilius wurde blass in Anbetracht dessen, was Haif noch erzählen würde.
»Die beiden Tore wurden an geheimen Orten vergraben. Doch viele Jahre später gelang es einem üblen Machthaber, eines der Tore zu finden. Er experimentierte damit und fand angeblich heraus, dass man es für Reisen durch die Zeit benutzen konnte.
Ein geheimer Orden, der das Schicksalsportal gebaut hatte, entriss dem Dieb das Tor wieder und betete zu seinem Gott Valheel, dass er dem Orden Weisheit geben würde, damit das Tor nicht wieder gestohlen werden konnte. Valheel erschien einem der Ordensmitglieder, als er im Gebet war, und er sagte ihm, er solle das ausgegrabene Tor den Largonen überlassen. Sie sollten ab diesem Tage dafür verantwortlich sein, dass nie wieder ein Fremder auch nur in die Nähe des Tores kommen konnte.«
»Und was war mit dem Schlüsselstein? Es ist doch derselbe Schlüssel, den Brelius gefunden hat, nicht wahr?«
»Der Schlüssel, der sowohl das Portal als auch das Zeittor wieder öffnen konnte, befindet sich nach diesem Mythos nur in einem bestimmten Gebiet dieser Inselwelt, nämlich in den Ahnenländern. Die Mönche brachten den Schlüssel dorthin. Valheel spaltete die Ahnenländer vom Rest der Inselwelt Truchten ab und schuf eine unüberwindbare Klippe um die Ahnenländer herum. So ist die Schlucht entstanden zwischen dieser Inselwelt und den Ahnenländern, die heute als Barriere von Valheel bezeichnet wird. Die Bewohner der Länder waren zwar fortan vom Rest der Welt getrennt, aber dafür konnte sichergestellt werden, dass niemand mehr den Schlüssel mit dem Tor auf der anderen Seite der Schlucht benutzen konnte.«
»Und was geschah mit dem zweiten Tor? Also jenes, das vergraben wurde?«, fragte Pais.
»Es gilt bis heute als verschollen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Antilius leise.
»Koros könnte noch gefährlicher werden, als wir befürchtet hatten.«
»Koros?«, fragte Haif.
Antilius erklärte dem Sortaner, was bisher geschehen war und welche Rolle Koros dabei spielte.
»Du meine Güte!«, stieß Haif daraufhin aus. »Stellt euch mal vor, Koros könnte das andere Tor, das als verschollen galt, gefunden haben und dann noch das zweite in die Finger kriegen. Dann könnte er beide Tore wieder vereinen und damit die Macht der Transzendenz, die im Portal eingeschlossen ist, entfesseln. Und das würde bedeuten …«
Jeder in der Runde um das nächtliche Lagerfeuer wusste, was dies bedeuten würde: Die Geburt eines neuen Transzendenten.
»Und niemand hat das Zeittor der Largonen je wieder angerührt?«, wollte Gilbert wissen.
»Niemand. Die Largonen schworen ihren Eid, das Tor für alle Generationen hinweg zu beschützen. In der Halle des Schicksals verbannten sie das Tor in ein Kellergewölbe, so heißt es.«
Antilius glaubte eigentlich nicht an Mythen und Legenden. Aber seit den letzten Ereignissen, insbesondere seit seinem Traum von der Schlucht und dem Mann ohne Gesicht war er sich nicht mehr sicher, was er noch glauben sollte. Koros war dieser Mann in seinem Traum und er wollte allem Anschein nach mithilfe des Portals zum neuen Transzendenten werden. Warum sollte er dann Antilius in seinem Traum erschienen sein? Was hatte Antilius mit dieser Sache zu tun?
Tatsächlich verbarg sich hinter der Geschichte um den Transzendenten eine weitere, düstere Wahrheit, die niemand kannte, auch nicht Haif. Das Geschehen an der Barriere von Valheel vor vielen Hundert Jahren hat es tatsächlich gegeben, wenngleich kein Gott der Namensgeber