Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix

Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix


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aufnehmen konnte, wodurch Thalantia vor noch viel Schlimmerem als einem Transzendenten bewahrt wurde. Bis zu diesem Tage.

      Es rächte sich heute, dass niemand mehr über die wahren Zusammenhänge Bescheid wusste. Denn mit dem Schlüsselstein, den Brelius unter Zwang in das erste Zeittor bei den Largonen eingesetzt und es damit aktiviert hatte, wurden Dinge ins Rollen gebracht, die eine Gefahr für ganz Thalantia bedeuteten. Eine existenzielle Gefahr, von der niemand etwas ahnte.

      Als alle (auch Gilbert in seinem Zimmer) sich schlafen legten, fiel es Antilius schwer, sich zu beruhigen. Er musste immer wieder an den Transzendenten denken. Seine Macht. Sein Zerstörungswille.

      Und das Zeittor. Oder das Portal, in dem die Macht des Transzendenten gefangen war und darauf wartete, endlich wieder entfesselt zu werden.

       Die Barriere von Valheel. Warum wurde sie geschaffen? Um den Schlüssel vom Rest der Welt fernzuhalten? War das alles? Anscheinend hatte Brelius diesen Schlüssel gefunden. Der Schlüssel muss also irgendwie die Ahnenländer verlassen haben.

       Was sagte Brelius noch in seinem Stimmen-Kristall? Das Avionium. Der Schlüssel, den er erstand, war ein Teil des Avioniums, das es nur in den Bergen der Ahnenländer gab. Er diente dazu, das Portal zu öffnen. Ein Teil des Portals war schon durch Brelius geöffnet worden, nämlich das Zeittor der Largonen.

       Und das Avionium? In großen Mengen sollte es die Schwerkraft aufheben können, glaubte Brelius. Vielleicht konnte es noch mehr. Vielleicht funktionierte das Portal nur dort, wo es auch reichlich von dem Avionium gab. Deshalb haben damals die Ordensmitglieder das Portal in den heutigen Ahnenländern aufgebaut.

       Weil es nur dort funktioniert. Ob Koros dies weiß?

       Der Transzendente kommt zurück. Der Transzendente.

       Der Transzendente.

      Es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

      Irgendwann schlief er aber dann doch ein. Nicht ahnend, dass Koros Cusuar ihn in dieser Nacht wieder heimsuchen würde.

      Der massige ovale Tisch war umgeben von insgesamt dreiundzwanzig Stühlen. Nur ein einziger war besetzt. Koros Cusuar saß allein gebückt am Tisch und schlang sein Abendmahl hinunter. Man konnte ihm am Gesicht nicht ansehen, ob es ihm schmeckte oder nicht. Essen war für ihn nur eine Pflicht, kein Genuss. In Anbetracht dessen, in was er erhoffte, sich zu verwandeln, war Essen nur eine dumme, unvermeidbare Pflicht eines Menschen zum Überleben.

      Sein dunkles Haar hing ihm chaotisch ins Gesicht. Er legte nicht viel Wert auf Äußerlichkeiten.

      Seine Karriere hatte er als einfacher Dieb begonnen. Ein Dieb, der im Verborgenen arbeitete. Und jetzt, zwanzig Jahre später, hatte er es zu einigem Reichtum gebracht. Seine telepathischen Fähigkeiten waren ihm auf diesem langen Weg mehr als nur einmal sehr nützlich gewesen. Schon immer hatte er sich zu Höherem bestimmt gefühlt. Und jetzt war er seinem Ziel so nahe wie nie zuvor.

      In den Speisesaal seines neu erworbenen Palastes fiel das letzte Licht des Tages ein. Koros schaute ab und zu zum Fenster hinaus, während er aß, aber nicht etwa, weil er den Sonnenuntergang nicht versäumen wollte, sondern weil er nach einem Gorgen Ausschau hielt, der ihm hoffentlich bald erfreuliche Nachrichten bringen würde.

      Koros’ Blicke wechselten immer wieder zwischen den Fenstern und einer Tür rechts von ihm, hinter der sich eine kleine Kammer verbarg. Es befand sich darin. Das Flüsternde Buch. Er fühlte sich magisch angezogen von dem Buch, das er gefunden hatte, und das, so wie er glaubte, für ihn bestimmt war. Nur für ihn.

      Aber wenn man sagte, er hätte das Buch gefunden, dann war dies aus seiner Sicht sicherlich nicht ganz zutreffend. Es war umgekehrt. Das Buch hatte ihn gefunden. Ja, so war es. Das Buch hatte ihn ausgewählt. Das Buch, das aus einer fernen Vergangenheit stammte und Dinge wusste, die es nicht mit jedem teilte.

      Koros schaute wieder zum Fenster. Schließlich wischte er sich grob seinen Mund mit einer schmuddeligen Serviette ab und stieß seinen Teller von sich, so heftig, dass er beinahe auf der anderen Tischseite wieder heruntergefallen wäre.

      »Wrax!«, brüllte er wütend.

      Seine beiden Dienerinnen, die sich an der Tür zum Vorzimmer postiert hatten, fuhren durch sein Gebrüll leicht zusammen. Sie fassten sich jedoch schnell wieder, um sich vor ihrem Herrscher nicht ein Zeichen von Schwäche anmerken zu lassen. Koros hasste Schwäche. Er hielt eigentlich nicht viel von Dienern, aber sein Berater und Verbündeter Wrax, nach dem er gerufen hatte, hatte ihm dazu geraten, um seinen Anhängern seine Macht und Stärke zu demonstrieren. Außerdem gehörte es sich angeblich so für einen Mann in seiner Position.

      Seine Untertanen sollten ihn zwar nicht lieben, aber sie sollten Ehrfurcht vor ihm haben. Und das mussten sie ihm jeden Tag zeigen. Wer nicht seine Ehrerbietung glaubhaft machen konnte, wurde beseitigt. Nur auf diese Weise gelang es dem Herrscher, sein archaisches Selbstbild in den Mienen seiner Untergebenen widerzuspiegeln.

      »Wrax!«, schrie Koros wieder. Er war erzürnt, dass Wrax nach seinem ersten Ruf noch nicht bei ihm erschienen war.

      Nach einer Weile sprang schlagartig die Tür auf und Wrax eilte keuchend herein. Er war schon beim ersten Aufruf seines Ersten - so wollte Koros stets genannt werden - losgelaufen, aber der Palast war so verschwenderisch weitläufig gebaut, dass er einige Zeit benötigte, um den Speisesaal zu erreichen.

      »Ihr habt nach mir gerufen, Erster?«

      Koros stand am Fenster und schaute zur untergehenden Sonne.

      »Habt Ihr mir nichts zu berichten, Wrax?«, fragte Koros betont ruhig, wobei er auf den Sonnenuntergang starrte.

      Wrax wusste, worauf Koros anspielte. »Erster, die Gorgens sind noch nicht aus den südlichen Ebenen zurückgekehrt. Ich erwarte aber jeden Moment ihre Ankunft.«

      Koros drehte sich ruckartig um. »Ich! Ich erwarte ihre Ankunft! Und das schon seit drei Tagen. Wieso dauert das so lange? Ich habe mich bisher bemüht, die Ruhe zu bewahren, habe mich von Euren ärmlichen Beschwichtigungen hinhalten lassen, aber jetzt ist Schluss, Wrax!«, fuhr Koros ihn an.

      Wrax nahm eine devote Haltung ein. »Aber Erster, Ihr selbst habt gesagt, ich solle eine Gruppe Gorgens auf Brelius Vandanten ansetzen, damit das Projekt geheim gehalten wird, und Ihr wisst ja, dass diese Wesen nicht viel von Pünktlichkeit verstehen, aber dafür erledigen sie ihre Aufträge immer sehr gewissenhaft.«

      »Wollt Ihr mir etwa die Schuld für Eure Unfähigkeit geben?«, schrie Koros. Wrax war der einzige, den er förmlich anredete.

      Wrax starrte ihn nur betreten an und schwieg. Er kannte diese Art von Wutausbrüchen nur zu gut. Dieser war nur einer von vielen, und auch der würde wieder vorbeigehen.

      Koros wandte sich wieder ab und lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe. »Es tut mir leid, Wrax. Ich wollte Euch nicht anschreien. Die Ereignisse der letzten Zeit haben mich nicht viel schlafen lassen. Ich weiß, dass ich mich immer auf Euch verlassen konnte und auch in Zukunft verlassen kann.«

      »Danke, Erster«, sagte Wrax demütig.

      »Erster, jemand will Euch sprechen«, sagte eine der Dienerinnen, ohne dabei Koros direkt anzuschauen.

      Koros lief rasch zu ihr und riss die Tür auf. Als Wrax erkannte, wer dort Einlass begehrte, atmete er erleichtert auf.

      »Tritt ein, Feuerwind«, sagte Koros zu dem Gorgen und bedeutete den Dienerinnen mit einer knappen Handbewegung, den Raum schleunigst zu verlassen. Koros schloss eigenhändig die Tür und schob den Riegel zu, um sicher zu sein, dass niemand sie stören würde. Dann wandte er sich ungeduldig an Feuerwind. »Also, was hast du zu berichten? Ich bin äußerst gespannt auf deine Neuigkeiten.«

      Der Gorgen machte ein zufriedenes Gesicht, wobei er sich leicht gebückt hielt, um mit dieser unterwürfigen Geste Koros einen angemessenen Respekt zu zollen. Es sah aber ziemlich übertrieben aus. Grotesk fand Wrax.


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