Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
schockierten Lois ein Bild von seiner 'Überraschung' in seinen Kopf zu projizieren. Ein Bild von Pais.
»Er freut sich schon wahnsinnig, dich wiederzusehen, Lois! Und das nach so langer Zeit. Man könnte sagen, er ist verrückt danach, seinen geliebten Bruder wiederzusehen. So verrückt, dass er dich glatt umbringen könnte!«, schallte Koros dem Anführer des Vierten Hauses ins Gehirn.
Lois versuchte, sein Entsetzen zu verbergen, aber Koros hörte alle seine Gedanken und fühlte alle seine Gefühle, als wären es seine eigenen.
»Ja, ich weiß. Es ist schlimm«, sagte Koros gehässig. »Aber jetzt ist die Zeit der Vergeltung gekommen. Hättest du ihn nicht gehen lassen, wäre er mir vielleicht nicht in die Arme gelaufen. Seine Seele flehte mich an, ihm zu seiner Rache zu verhelfen. Was hast du ihm nur angetan, du Unmensch?«
Der Herrscher traf Lois bis ins Mark. Auf einen Angriff der feindlichen Macht war er vorbereitet gewesen, nicht jedoch auf die psychische Gewalt, die Koros meisterhaft beherrschte.
»Verschwinde aus meinem Kopf! Dann werden wir sehen, wie mächtig du wirklich bist«, sprach Lois in Gedanken.
Der Eindringling durfte nicht noch mehr über ihn in Erfahrung bringen. Er durfte nicht noch mehr Schwächen erspüren.
Trotzdem war es dem Herrscher gelungen, Schuldgefühle im Bruder von Pais aufkeimen zu lassen. Immer wieder in der Vergangenheit hatte Lois sich Vorwürfe gemacht. Er bereute es, nicht das Gespräch mit Pais gesucht zu haben.
Sein kleiner Bruder war schon von immer ein Außenseiter gewesen. Er hatte ständig alles und jeden infrage gestellt. Er hatte nicht dieselben Spiele wie die anderen Kinder in seinem Alter gespielt. Und als er zu einem Mann herangewachsen war, ertrug er das Leben in den Ahnenländern nicht mehr. Er versuchte es mit Verständnis. Mit Bitten, die steifen Verhaltenskodexe aufzuweichen. Er wollte in die Welt hinausziehen. Wollte Abenteuer erleben. Die Freiheit spüren.
Lois war einer der härtesten Verfechter der Einhaltung von Regeln, Normen und vor allem Tradition gewesen. Er wäre sogar bereit gewesen, seinen eigenen Bruder aus dem Haus Kellron zu verstoßen, wenn er nicht seine »den Frieden gefährdenden« Hetzereien gegen die Ahnenländer aufgeben würde. Wenn er sich nicht fügen würde.
Er wäre bereit gewesen. Damals.
Aber Pais hatte sich nicht gefügt. Er war geflohen. Über Nacht. Ohne einen Abschiedsbrief.
Lois war einige Monate der festen Überzeugung gewesen, Pais hätte die Flucht nicht überlebt. Niemand zuvor hatte einen Versuch unternommen, von der Klippen-Insel zu türmen.
Aber Lois wusste auch, dass sein Bruder anders war. Er würde es überlebt haben. Er würde sich eine neue Existenz aufgebaut haben, und er würde glücklich geworden sein. Dieser Gedanke war für ihn die einzige Möglichkeit, über den Verlust von Pais hinwegzukommen. Den Mut aufzubringen, nach ihm zu suchen oder in Erfahrung zu bringen, ob Pais noch lebte, brachte er zunächst nicht auf. Er konnte nicht aus seiner eigenen Haut heraus. Er lebte gerne hier und wollte seine Familie nicht verlassen oder gar in Gefahr bringen. Kontakt nach außen war strikt untersagt. Alleine der Versuch wurde hoch bestraft. Dennoch hatte man auf den Ahnenländern die Möglichkeit, sich über das Geschehen außerhalb des kleinen Eilandes zu informieren, wodurch er letztlich Pais aufspüren und seinen weiteren Lebensweg im Geheimen verfolgen konnte, wenn auch nur sporadisch.
Was Lois in diesen schrecklichen Minuten von dem verrückt gewordenen Herrscher erfahren und zu sehen bekommen hatte, ließ ihn innerlich zerbrechen.
Schuldgefühle erwuchsen in ihm. Sein Bruder würde kommen und sich bei ihm rächen. Lois konnte ja nicht ahnen, dass Pais manipuliert wurde und dass er kein gewalttätiger Mensch war.
Er wollte es nicht auf diese Weise enden lassen.
Nicht auf diese Weise.
»Geh aus meinem Kopf, du Irrer!«, stammelte Lois in Gedanken zu Koros.
Koros verlor allmählich die Lust, seinen Gegner noch weiter zu quälen. Fürs Erste sollte es reichen. Mit dem, was er bisher erreicht hatte, war er ganz zufrieden. Psychologische Kriegsführung war eine nicht zu unterschätzende Methode, seinen Gegner zu schwächen, das wusste er.
»Sieh, was ich vollbringen werde, und dann urteile über mich. Pais wird ganz sicher über dich urteilen und richten«, blies er Lois ins Gehirn und verließ danach dessen Gedankenwelt und kehrte zurück in seine eigene.
Einsam wiegte Koros Cusuar sich mit halb geöffneten Augen am Abgrund. Er spürte die Unruhe der Gorgens hinter seinem Rücken. Er spürte das unbändige Verlangen zuzuschlagen und zu siegen. Er hörte sie atmen. Jeden einzelnen Angehörigen seiner und der gegnerischen Armee konnte er atmen hören. Er konnte sie alle hören. Jeden einzelnen.
Die Zeit war gekommen. Koros kniete sich auf das schroffe Gestein und las ein paar Steine auf. Er umschloss sie mit seiner Faust, wobei er den Arm ausgestreckt hielt. Mit leisem Knirschen zermalmte er sie mit seiner bloßen Hand.
Seine Stärke, sein Wille und sein Wahnsinn erreichten in diesem Augenblick ihren Höhepunkt. Das Flüsternde Buch hatte ganze Arbeit bei ihm geleistet.
»Lasst die Erde erzittern«, hauchte er nur für sich selbst.
Er hob den Arm nach oben und ließ ihn dann wie ein Fallbeil fallen. Das Signal.
»VALHEEL!«, schrie Wrax mit brechender Stimme.
Es war der Schlachtruf, der die Armee der Finsteren Ebenen zur einer Einheit formen und auf das eine Ziel einschwören sollte.
Der Herrscher Koros Cusuar verharrte apathisch auf den Knien.
Hinter ihm erhob sich eine dunkle Wolke aus lederartigen Leibern in die Luft. Eine Welle von über sechstausend Gorgens baute sich vor den Verteidigern der Ahnenländer auf und brach wie eine Sintflut über sie herein.
Die Zeit läuft ab
»Wo bist du?«, brüllte Antilius in das weite Land von Verlorenend.
Gilbert wurde durch den Lärm grob aus seinen Träumen gerissen. Und das war wirklich bedauerlich. Es waren Träume, die er seit sehr langer Zeit nicht mehr geträumt hatte.
»Was brüllst du so?«, fragte er verschlafen.
»Wo bist du?«, schrie Antilius wieder.
»Mit wem redest du? Antilius! Was ist denn los?«
»Sie hat uns belogen«, schnaufte Antilius. »Sie hat uns die ganze Zeit nur Lügen aufgetischt.«
Gilbert war verwirrt. »Wer?«
»Tahera!«
»Wieso hat sie gelogen? Und wobei?«
»Dieser Ort hier. Er ist nicht das, für den wir ihn halten sollen.«
»So? Was ist er dann?«
Antilius raufte sich niedergeschmettert die Haare. »Ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht. Wir dürfen aber nicht hier bleiben - das weiß ich. Uns läuft die Zeit davon!«
»Du sprichst in Rätseln, Meister.«
»Ja, in Rätseln zu sprechen, das scheint hier eine Krankheit zu sein«, sagte Antilius verbittert.
»Es ist keine Krankheit«, sagte Tahera, die plötzlich wie aus dem Nichts hinter Gilbert und Antilius aufgetaucht war.
»Ich wollte euch nur beschützen.«
»Da bist du ja endlich! Sag mir jetzt die Wahrheit! Wehe, du belügst mich ein weiteres Mal.«
»Nur hier seid ihr sicher!«, wehrte sich Tahera mit ängstlicher Stimme.
»Unsinn! Durch dein Verhalten hast du alles nur noch schlimmer gemacht.«
»Wovon redest du?«, fragte sie verwirrt.
»Koros war hier. Er wusste von diesem Ort. Er kennt Verlorenend, verstehst du?«, sagte Antilius zornig.
»Das