Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
Dann stampfte er davon. Der ominöse Dritte drehte sich schleppend um und schaute ganz unvermittelt direkt in Haifs Linse. Dieser erschrak so sehr, dass er das Glas fallen ließ und sich reflexartig auf den Boden kauerte.
Der Sortaner war sich sicher, dass Pais Ismendahl ihn gesehen hatte. Das war aber nicht der Fall. Das Fernrohr täuschte nur eine unmittelbare Nähe des Menschen vor.
Der ältere von den beiden Menschen war es also, der gefangen genommen worden war. Nur wieso war Pais nicht gefesselt oder sonst wie an eventuellen Fluchtversuchen gehindert worden? Er schien sich frei bewegen zu dürfen.
Der Sortaner riskierte einen weiteren Blick. Der alte Pais schwang sich gerade agil auf eines der Borus und wartete offenbar die Fortsetzung des Marsches ab. Er machte nicht den Eindruck, gezwungen oder kontrolliert zu werden. Keiner achtete auf ihn.
»Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht«, flüsterte Haif kritisch.
Erneut gab es ein hässliches Tiergeschrei, das sogar noch schlimmer war als Haifs Gesang. Die Armee setzte sich daraufhin schwerfällig wieder in Bewegung. Die Schlange kroch weiter. Nur die Gorgens mussten sich ans hintere Ende der Schlange einreihen.
Und Haif folgte ihr abseits des Pfades, wo er nicht aufgespürt werden konnte.
Früher Herbst
»Ich erinnere mich nicht, dir befohlen zu haben, dass diese elenden Schmeißfliegen die Vorhut bilden dürfen!«, brüllte Koros seinen engsten Berater an. Mit den ‚Schmeißfliegen’ meinte er die Gorgens, die dazu gestoßen waren.
Wrax war mittlerweile an die Wutausbrüche seines Ersten gewöhnt. Er blieb ruhig, ließ Blitz und Donner geduldig über sich ergehen.
Auch der Umstand, dass Koros ihn kurzzeitig geduzt hatte, ließ ihn kalt.
»Wrax, nach all den Jahren guter Zusammenarbeit, hätte ich von Euch nicht mehr solche Inkompetenz erwartet. Ihr solltet die einzelnen Gruppen koordinieren. Koordinieren, Wrax! Wir können uns keine Fehler mehr leisten. Nicht jetzt. Das kann doch nicht so schwer sein! Ich brauche Euch jetzt, Wrax. Ich schaffe es nicht, mich um alles allein zu kümmern.«
Dann geh’ doch nach Hause, hörte Wrax sich denken. Das war das erste Mal, dass er innerlich gegen seinen Ersten rebellierte.
»Ich werde mich sofort darum kümmern, Erster« sagte Wrax. Allerdings war sehr deutlich ein gelangweilter Unterton mitgeschwungen. Und wenn einer diesen Ton bemerkte, dann war es Koros Cusuar.
»Wrax! Habt Ihr mir etwas zu sagen?«
»Ich verstehe nicht, Erster. Was meint Ihr?«
Die Augen des Herrschers wurden eiskalt. »Wagt es nie wieder, mich für dumm zu verkaufen, Wrax, oder ich bringe Euch um. Das schwöre ich Euch! Ich bringe Euch um.«
Wrax wurde bleich. Koros hatte ihm schon in den letzten Jahren mit vielem gedroht. Aber noch nie mit dem Tod.
Er wollte etwas erwidern. Sich wehren. Stattdessen machte er sich an die Arbeit und eilte zu den Gorgens, um sie an ihre Position zu beordern - zum Ende des Zuges.
Er wollte nicht glauben, dass sein Erster es ernst meinte. Aber Koros war, seit sie sein Reich verlassen hatten, nicht mehr er selbst. Seine Stimme war hölzern geworden. Kalter Schweiß troff ihm ständig von seinem teigig gewordenen Gesicht. Sein schmieriges Haar krümmte sich krank auf seinem überhitzen Kopf. Sein Mantel klebte an ihm wie ein Leichentuch.
Fast hätte Wrax Mitleid mit seinem Ersten empfunden. Aber auch nur fast. Die emotionale Überreaktion seines Ersten war doch mehr, als er ertragen konnte. Abscheu und Hass sprudelten unerwartet in dem Berater hoch. Und dieses Mal bemühte er sich nicht, jene Gefühle zu unterdrücken oder zu vergessen. Wrax stand zwar in der Schuld des Herrschers. Aber nach diesem Vorfall war der Preis zu hoch geworden. Längst hatte er seine Schuld abbezahlt.
Verschwinden wollte er. Am liebsten einfach in das Dickicht des Waldes rennen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Auch wenn das ein utopischer Gedanke war, nahm Wrax ihn sehr ernst. Denn er gefiel ihm sehr.
»Wenn es Schwierigkeiten gibt, dann lauf so schnell du kannst!«, flüsterte er unhörbar sich selbst zu, als er die Tausendschaft der Gorgens erreichte. Sie stanken. Das war ihm vorher gar nicht aufgefallen. Ihm wurde übel. In dem Punkt gab er seinem Ersten recht: Es waren abscheuliche Wesen. Nicht alle Gorgens waren so verwahrlost. Es gab auch zivilisierte unter ihnen, aber das ist eine andere Geschichte.
Bevor Wrax Befehle erteilte, ließ er seinen Blick über die Armee streifen, die er selbst aufgestellt und zu verantworten hatte.
Das dritte Quartal dieses Jahres war noch nicht vorüber und die Bäume verloren schon mehr als zu dieser Jahreszeit üblich ihr Blattwerk. Es fiel auf die Horde von Bestien und Biestern herab, als wollten die Bäume sie damit vertreiben. Oder es lag an der verpesteten Luft.
Verpestet, dachte Wrax
Das alles hier, das ganze wahnsinnige Vorhaben ist verpestet. Und du bist es auch! Du gehörst dazu, zu all diesem Schmutz.
Koros war sichtlich bemüht, sich unter Kontrolle zu bringen. Allerdings mit nur mäßigem Erfolg. Reue für seine Morddrohung gegen seinen engsten Berater empfand er nicht. Dafür war kein Platz. Nicht jetzt. Und später auch nicht.
»Na, alter Mann. Wie fühlst du dich?«, fragte er Pais bissig.
Pais besaß nach wie vor keine Kontrolle über sich. Er stand vollständig unter fremdem Einfluss. Nur ein Ziel hielt ihn in seinem Würgegriff: Rache. Rache dafür, dass sein eigener Bruder nicht für ihn da gewesen war, als er ihn gebraucht hatte. Damals vor vielen Jahren. Als sein Bruder sich von ihm abgewendet hatte, zu dem Zeitpunkt, an dem es niemanden mehr gegeben hatte, der ihm geglaubt hatte. Als Pais seiner Heimat den Rücken kehren musste und alles verloren hatte, das er geliebt hatte. Die Rache war von nun an seine Triebfeder. Sie war das Einzige, an das er denken konnte. Deswegen hörte er auch dem Herrscher nicht zu und antwortete nicht auf dessen Frage. Er war geistig nicht anwesend.
Koros wischte sich mit der Handinnenfläche den Schweiß von der Stirn. »Ich denke, es war wohl doch keine gute Idee, dich mitzunehmen. Aber ich werde gnädig zu dir sein. Ich kann jeden Mann gebrauchen, wenn wir die Barriere erreicht haben. Selbst wenn er so alt und so leicht zu beeinflussen ist wie du. Aber du könntest noch für mich nützlich sein, falls Antilius es tatsächlich schaffen sollte, auch noch an der Barriere von Valheel aufzukreuzen«, sagte Koros.
Es würde bald so weit sein. Nur noch wenige Tage und Koros und seine Armee würden auf die Gegenmacht der Dreizehn Häuser der Ahnenländer treffen. Und mit einer Gegenwehr war mit absoluter Sicherheit zu rechnen. Überall hatte sich herumgesprochen, dass er die Ahnenländer überfallen wollte. Schließlich hatte er fast auf ganz Truchten nach Söldnern für seine Armee suchen lassen, auch wenn er diese letztlich hauptsächlich nur aus den Finsteren Ebenen anwerben konnte.
Die Ahnen-Ländler würden an der Barriere schon auf ihn warten. Und nur die Schlucht würde sie trennen. Ein Umstand, den Koros zu seinem Vorteil nutzen wollte. Er machte sich keine Sorgen darüber, ob er die Häuser würde besiegen können. Vom Sieg war er überzeugt. Vielmehr sorgte er sich um den Aufbau des Portals. Und um das, was es in sich barg. War er imstande, die im Portal ruhende Macht in sich aufzunehmen? Würde er zurückgewiesen werden?
Und dann gab es noch Antilius. Er war die wohl größte Variable in seinem Kalkül. Antilius war für ihn ein Mysterium. Seine Verbindung zu ihm wurde stärker. Koros war sich selbst nicht völlig im Klaren, was ihn an Antilius so faszinierte. Es lag wahrscheinlich an den Fähigkeiten, über die Antilius verfügte aber selbst nichts ahnte. Und an dem, was das Flüsternde Buch Koros über Antilius erzählt hat. Sollte es wirklich wahr sein (und Koros war absolut überzeugt davon, dass das Flüsternde Buch die Wahrheit sagte), dann würde sein Sieg als Transzendenter über Antilius das Glorreichste sein, dass die Siebeninselwelt je erlebt hatte.
Das Aufbruchssignal ertönte.
Immer noch nachdenklich