Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
und? Menschen! Was kümmern dich die Menschen? Was haben Menschen jemals für dich getan? Warum solltest du etwas für sie tun?«
Aber es gab noch eine andere Stimme, die sagte:
»Du kannst den Menschen nicht im Stich lassen. Du hast es schon einmal getan. Einmal zu viel. Das ist deine Chance, es wieder gutzumachen. Du musst etwas unternehmen. Oder willst du, dass sie alle wieder mit dem Finger auf dich zeigen und ‚Feigling! Feigling!’ brüllen?«
Beide Argumente waren für Haif von Bedeutung. Das zweite aber noch mehr.
Er besaß keinen Plan, keine Armee und keinen Mut. Dennoch wollte er wenigstens mal nachsehen. Er wollte zum Anwesen von Koros Cusuar gehen und schauen, ob der Mensch noch lebte. Um wen es sich wohl handelte? Pais oder Antilius?
Und vielleicht, vielleicht fiele ihm dann etwas ein. Auf jeden Fall wollte er mal nachsehen. Konnte ja nicht schaden. Da konnte nicht viel passieren.
Haif wollte natürlich kein Risiko eingehen, aber er musste gehen und herausfinden, wer der Mensch war, den Koros gefangen hielt und ob es ihm gut ging.
Haif ging einkaufen. Er rüstete sich mit allerlei Utensilien aus. Ausreichend Proviant war natürlich das Wichtigste. Ein paar kleine Klingen für die Gorgens. Gift für die Piktins und natürlich noch ein Fernrohr, denn das alte hatte er beim nächtlichen Überfall der Piktins unfreiwillig zurückgelassen.
Wäre Haif nicht in Fara-Tindu geblieben und stattdessen nach Itap-West gegangen, dann wäre er vermutlich umsonst zum Reich des düsteren Koros Cusuar gereist. Denn eine Nachricht erreichte Fara-Tindu als eine der ersten Städte auf Truchten: Koros war mittlerweile mit seiner Armee zur Barriere von Valheel aufgebrochen.
Haif rechnete nach: Seit seiner Rückkehr nach Fara-Tindu waren jetzt vierzehn Tage vergangen. Koros Cusuar schien es sehr eilig zu haben. Er musste in Windeseile eine Armee zusammengestellt haben.
Es war nur ein Gefühl. Eine Intuition. Aber Haif glaubte nicht, dass der Mensch noch in Koros’ Palast gefangen war. Schließlich wusste Haif genau, warum der Herrscher zur Barriere vorgestoßen war: Das Portal, das ihm unendliche Macht verleihen sollte, sollte dort aufgestellt werden.
Pais und Antilius waren beide auf der Suche nach einem der Fragmente, aus denen das Portal bestand. Und einer von ihnen, also entweder Pais oder Antilius, war sicherlich bei Koros. Er würde den glücklosen Menschen brauchen. Er würde jeden brauchen, den er kriegen konnte.
»Das ist deine Chance, es wieder gutzumachen!«, rief die eine Stimme in seinem Kopf.
»Und ich werde sie nutzen«, sprach Haif mit einem noch verbesserungswürdigen Ausdruck von Unerschrockenheit.
Er machte sich auf den Weg zur Barriere von Valheel, welche die Ahnenländer von Truchten trennte. Ganz alleine. Er folgte der Stimme, die ihm die Chance seines Lebens beschwor. Die Chance, kein Feigling zu sein.
Die andere Stimme war verstummt.
Sie antwortet nicht
Gilberts entgleisende Gesichtszüge, als der erste Schluck Bier durch seine Kehle rann, war ein Bild für die Götter.
Gilbert, Antilius und Tahera stießen auf die Freundschaft an. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Darauf konnte man schließlich gar nicht oft genug anstoßen. Nicht in dieser unwirklichen Welt, in der Häuser vor ihrem Besitzer Reißaus nahmen.
Bis hierhin hatten sie es geschafft. Sie waren so weit gekommen.
Ihr Zusammenhalt war ihre Stärke. Und jetzt, da Gilbert aus seinem Gefängnis befreit war, fühlte sich Antilius wesentlich sicherer. Er hatte das Gefühl, es schaffen zu können. Was immer dieses ‚es’ auch sein würde. An diesem Abend war es ihm egal, welche besondere Fähigkeiten er haben sollte.
»Ich bin von nun an dein Ex-Meister«, nuschelte er leicht angetrunken zu Gilbert.
Der Abend in der Taverne dehnte sich aus. Doch irgendwann wurde es auch Gilbert zu viel. Die Eindrücke einer fremden Welt waren für ihn immens. Er war müde und wollte schlafen.
Galant wollten sich die beiden Freunde von der Frau mit dem neuen Namen verabschieden. Doch erstens fiel ihnen auf, dass das viele Bier, das sie getrunken hatten, den Namen dieser Frau auf mysteriöse Weise aus ihrem Gedächtnis verdrängt hatte, und dass zweitens jene Frau schon seit geraumer Zeit verschwunden war. Dunkel erinnerte sich Antilius daran, wie sie schon früh gegangen war, um für den nächsten Tag ausgeruht zu sein. Und um die beiden noch ein wenig alleine feiern zu lassen.
Antilius und Gilbert verließen die Taverne und torkelten im Freien ziellos umher. Die Frau hatte wohl vergessen, ihnen zu sagen, wo sie schlafen konnten. Oder hatte sie es gesagt? Bestimmt! Es fiel ihnen aber nicht mehr ein.
»Egal, wir schlafen in der unberührten Natur, nich’ wah?«, nölte Gilbert. Das Bier machte ihm ganz schön zu schaffen. Er war daran nicht mehr gewöhnt. Dabei vertrug er doch mehr, glaubte er.
Sie erreichten die Klippe, an der Antilius zum ersten Mal die Frau gesehen hatte, deren Name ihm nicht mehr einfallen wollte.
Auch er war entsetzlich müde. Er hätte im Stehen einschlafen können. Dieses Mal fürchtete er sich nicht, im Freien zu übernachten. Dieser Ort war anders. Er kam sich zwar vor wie ein Fremdkörper, doch wirkte diese Welt auf ihn nicht bedrohlich.
Gilbert legte sich auf den grasbewachsenen Untergrund und schlief auf der Stelle ein.
Sein Ex-Meister wagte noch einen kurzen Blick über die Klippe. Das teerartige Meer sah noch genauso aus wie bei seinem ersten Eintreffen. Doch was war das neben ihm? Das rote Ding da. Ein kümmerliches rotes Etwas. Er hob es von der Erde auf.
»Schon wieder du?« Es war die wundersame rote Blume. Genau wie die andere, die er zu neuem Leben erweckt hatte, nur war diese schon halb verwelkt.
»Noch einmal«, sagte er. »Ich versuche es noch einmal.«
Er wollte es noch einmal fertig bringen, der Blüte wieder zu ihrer alten Pracht zu verhelfen. Doch etwas störte ihn: »Warum eigentlich? Wieso muss ich dir helfen? Sag mir, kleine Blume, warum verwelkst du? Bekommst du nicht genug Licht? Warum stirbst du, wenn die Zeit hier doch nicht vergeht und dir nichts anhaben kann? Wieso welkst du, obwohl die Zeit hier doch nicht existiert? Warum antwortest du mir nicht, kleine Blume?«
Sie antwortete nicht.
»Sprich mit mir!«, lallte er.
Er bat sie mehrfach mit ihm zu reden. Dann wurde ihm klar, wie idiotisch das war, was er gerade tat.
Er legte sich neben Gilbert hin.
Dann versank er in einen tiefen Schlaf.
Er ahnte nicht, dass seine Verwunderung über die welke Blume absolut berechtigt war. Tahera hatte ihm nämlich über die Zeit in Verlorenend nicht die Wahrheit gesagt. Die Zeit verging, und damit rückte die Bedrohung für Thalantia und für Verlorenend immer näher.
Der Alte Pfad
Es fiel Haif schwer, sich nicht einfach umzudrehen und nach Hause zu gehen.
Was mache ich hier eigentlich? Ich sollte gewinnbringende Geschäfte abschließen und nicht nach einem Menschen suchen, dem sowieso nicht mehr zu helfen ist!
Doch der kleine Sortaner war sich auch bewusst, was geschehen würde, wenn Koros sein Portal öffnete und dieses ihm die Macht des Transzendenten verleihen würde. Er hatte zwar keine Vorstellung davon, was die Macht der Transzendenz alles bewirken konnte, doch Gutes fand sich mit Sicherheit nicht darunter.
Haif kam recht zügig voran. Er entschied sich, nicht den direkten Weg von Fara-Tindu zur Barriere im Nordwesten zu nehmen. Stattdessen wollte er zum Alten Pfad, der vermutlich auch von der Armee von Koros Cusuar gewählt wurde. Der Alte Pfad führte von Fara-Tindu durch Wälder zunächst etwas weiter nach Norden in die Nähe des Palastes von Koros Cusuar und dann in Küstennähe weiter nach