Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
Tiefe. Es war unheimlich tief. Sein erster Traum von Koros war jetzt wieder voll präsent. Normalerweise hätte Antilius in diesem Augenblick einen Schwindelanfall erlitten, da er etwas unter Höhenangst litt, aber hier war es anders. Alles war anders. Es war nicht real. Es war aber auch kein Traum. Er verspürte keine Angst, in die Tiefe zu stürzen.
Wo war er? Was war dieser Ort, der nach einer mystischen Legende nach, Verlorenend genannt wurde? War es doch ein Traum? Ein Albtraum?
Hier waren Traum und Realität miteinander vermischt. Es gab keine Grenze zwischen diesen beiden Welten.
»Nein, es ist kein Albtraum, Antilius«, sagte eine weibliche Stimme neben ihm.
Verschreckt drehte er sich zur Seite und erblickte eine junge Frau in einem hellen Gewand, die plötzlich neben ihm stand. Antilius war unentschlossen, ob es sich eventuell wieder um eine Art Vision oder ein Trugbild handelte.
Die Frau lächelte. Ihr langes, glattes und dunkles Haar reflektierte das schwache silberne Licht, das keinen Ursprung hatte. Für einen Sekundenbruchteil hatte er das Gefühl, sie zu kennen. Aber dann war dieses Gefühl auch schon wieder weg.
»Weißt du, wo du bist?«, fragte sie ihn.
»Ich bin nicht mehr in der wirklichen Welt, oder?«
»Wo bist du dann?«
»Ich glaube … nein, ich weiß, dass ich in Verlorenend bin. Ich fühle es.«
»Ich habe diese Bezeichnung lange nicht mehr gehört. Aber ja, du hast recht, das ist Verlorenend. Es ist ein eigener Kosmos. Eine Parallelwelt, wenn du es so nennen willst. Bist du freiwillig hier?«
Antilius schaute sein Gegenüber verdutzt an. »Was für eine merkwürdige Frage. Ich glaube, ich kann sie dir nicht beantworten.«
»Dann ist es richtig, dass du hier bist. Als ich hierher kam, wusste ich ebenfalls nicht, wieso. Ich konnte mich lange Zeit an nichts aus meinem früheren Leben erinnern. Niemand weiß genau, wie man nach Verlorenend kommt. Es heißt, es schaffen nur die Auserwählten. Aber soweit ich weiß, ist es schon sehr lange her, dass jemand hierher gefunden hat«, sagte die Frau.
Ihre Stimme war gleichmäßig sanft, und sie sprach sehr leise. Sie schien in sich zu ruhen. Sie stand mit dieser Umgebung im Einklang. Sie war ein Teil von ihr. Antilius glaubte nicht, dass sie ihm irgendetwas vorspielte. Es fiel ihm sonst schwer, andere Menschen nach nur kurzer Zeit richtig einzuschätzen, aber bei ihr war er sich ziemlich sicher, dass sie nichts Böses im Schilde führte.
Er schaute sie lange und fasziniert an. »Subjektiv betrachtet hatte ich keine Wahl«, sagte er. »Wenn ich ehrlich bin, wollte ich etwas über mich selbst erfahren. Deshalb bin ich nach Truchten gereist, dort wo alles begann. Und jetzt? Jetzt ist der ganze Planet in Gefahr. Ich bekomme gesagt, ich hätte besondere Augen und ich wäre der Einzige, der noch etwas bewirken könnte, ein Unheil abzuwenden. Wie sollte ich da nein sagen?«
»Ich weiß, warum du hier bist. Du zweifelst an dir selbst?«
»Ich bin bisher nur Menschen und Wesen begegnet, die so viel mehr wissen als ich. Ich sehe nur die Spitze eines Eisbergs. Ich weiß nicht, ob ich jemals den ganzen Berg sehen werde. Ich verstehe einfach nicht, was ich mit der Sache zu tun habe.«
»Deine Rolle, die dir zugetragen worden ist, ist mannigfaltig. Du verlangst von dir selbst zu viel. Du bist schon so weit gekommen. Du hast dich auf die Suche nach deinem Schicksal begeben. Nur wenigen ist dies bisher gelungen«, erklärte sie und schaute dabei aufs Meer hinaus.
»Da siehst du es! Auch du weißt mehr über mich als ich selbst.«
»Ich weiß nur das, was ich aus deinen Gefühlen herauslesen kann. Die Antworten werden kommen. Lass ihnen nur Zeit. Es ist deine Bestimmung, hierher zu kommen. Ich habe deine Ankunft vorhergesehen.«
Für ein paar Sekunden schauten beide nebeneinanderstehend auf das Meer. Es war so sehr dunkel und doch besaß es eine gewisse Schönheit. Es hatte eine beruhigende Wirkung.
»Und wer bist du?«, wollte Antilius dann wissen.
Die Frau warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Wie heißt du?«, fragte er nach.
Die Frau wirkte erstaunt. »Ich hatte einmal einen Namen, aber der ist hier bedeutungslos geworden. Wir brauchen hier keine Namen aus unserem früheren Leben.«
»Und wie redet ihr euch dann an?«
Die Frau lachte daraufhin. »Komm! Ich zeige dir mehr von dieser Welt.«
»Ich muss aber zum Orakel«, sagte Antilius energisch.
»Ja, ich weiß. Ich werde dich auch zu ihm führen. Aber noch ist es zu früh.«
Antilius stimmte nur zögerlich zu. Er war neugierig auf das Unbekannte und er war froh, dass er nicht alleine war. Er vermisste seine Heimat, aber ein Novum für ihn war, dass er Gilbert noch mehr vermisste. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er sich an ihn gewöhnt hatte.
Regeneration und Wiedervereinigung
In Verlorenend, einer Welt zwischen der endlichen Wirklichkeit und der Endlosigkeit der Träume, schritt Antilius dem Unbekannten entgegen.
»Wann wird es hier hell?«, fragte er seine Begleiterin.
»Es gibt hier keine Sonne, die auf- oder untergehen könnte. Die Lichtverhältnisse hier sind so, wie du es für dich gerade wahrnimmst. Für mich ist alles ganz normal.« Die Frau ohne Namen musste ein wenig grinsen.
»Wieso lachst du? Ich bin schließlich neu hier«, verteidigte er sich ein wenig flachsend.
»Entschuldige. Ich fand es nur amüsant, weil du doch eigentlich bereits alles weißt.«
»Ich weiß nichts über diese Welt. Ich kann mich nicht einmal an meine eigene Vergangenheit erinnern. Aber davon wusstest du wahrscheinlich auch schon, bevor wir uns getroffen haben.«
Die Namenlose nickte und grinste dabei ein wenig. »Warte nur. Du wirst es noch begreifen. Und was deine Vergangenheit betrifft: Das Orakel wird dir vielleicht helfen können. Versprechen kann ich es dir aber nicht. Hab Geduld, Antilius.«
»Wenn du meinst. Und womit vertreibst du dir die Zeit, wenn du nicht gerade unwissende Neuankömmlinge verunsicherst?«
»Zeit?«
»Ja. Kennst du das etwa nicht?«
»Es gibt hier keine Zeit. Zeit ist bedeutungslos.«
Antilius blieb stehen. »Moment Mal! Soll das etwa heißen, dass hier die Zeit stehen geblieben ist und es deshalb nicht hell wird?«
»Nein. Die Zeit schreitet nicht voran. Sie bleibt auch nicht stehen. Es gibt sie nicht, zumindest nicht in dem Sinne, wie auf Thalantia. Die Zeit kann diesen Ort nicht erreichen, wenn du es so verstehen willst.«
»Keine Zeit? Wie können wir aber dann hier ohne Zeit überhaupt existieren?«
»Hier kann alles existieren. Alles lebt. Du kannst diese Welt nicht mit deiner vergleichen. Verlorenend ist ein Multiversum von unendlich vielen Möglichkeiten. Du wirst seine Wahrheit schon noch verstehen, glaube mir.«
Antilius seufzte. Wieder überkam ihn das Gefühl, die Namenlose irgendwoher zu kennen. Er würde sie noch danach fragen, aber nicht jetzt.
Eine ganze Weile lang gingen er und die schöne, merkwürdige Frau nebeneinander her, bis sie vor einem kleinen Holzhaus Halt machten. Zu Antilius’ Verwunderung war es das einzige Haus weit und breit. Im Gebäude brannte kein Licht.
»Was denkst du, wenn du das Haus betrachtest?«, wollte die Namenlose neugierig wissen.
Antilius begriff nicht, worauf diese Frage abzielte. Vielleicht war es eine Art Prüfung. »Ich weiß nicht. Ein einsames Haus. Klein. Aus Holz. Ein bisschen heruntergekommen.«
»So ist es. Es fühlt sich nicht gut«, flüsterte sie.
Antilius