Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
wer Ihr seid, und ich weiß, was Ihr vorhabt«, erwiderte er.
Koros grinste kurz und kehrte dann wieder zu seiner ausdruckslosen Miene zurück, die seine wahren Gefühle seinem Gegenüber verbergen sollte.
»Wo ist er?«, fragte Koros.
»Wer? Ich weiß nicht, wen Ihr meint. Ich war allein.«
Der Herrscher schüttelte enttäuscht seinen Kopf. »Ich meine natürlich Antilius. Deinen Gefährten und Freund zu beschützen, ehrt dich. Deine Lügen sind aber in den Wind gesprochen. Noch einmal: Wo ist er?«
»Glaubt Ihr ernsthaft, ich würde es Euch verraten? Selbst, wenn ich wüsste, wo er sich gerade aufhält, würde ich es Euch nicht sagen«, raunte Pais und mied dabei, dem Herrscher ins Gesicht zu schauen.
»Ich weiß. Ich weiß. Er ist durch das Zeittor gegangen. Habe ich recht? Er konnte seiner unbändigen Neugier einfach nicht widerstehen.«
»Das weiß ich nicht. Und das ist die Wahrheit. Ich habe ihn verloren. Ich weiß nicht, wo er ist.«
Koros nickte verständnisvoll. »Ich glaube dir, alter Mann. Ich spüre aber immer noch seine Präsenz, nur kann ich ihn nicht orten. Er ist nicht mehr hier auf dieser Welt, aber ich kann ihn immer noch wahrnehmen. Er hat vor, sich mir entgegenzustellen. Er will mich herausfordern, und er weiß es noch nicht einmal.
Er will die Welt retten, und hat keine Ahnung, wie. Er weiß nicht einmal, wer er eigentlich ist. Er kennt nicht einmal seinen richtigen Namen. Ist das nicht faszinierend?«, fragte er und lächelte dabei befremdlich.
»Ihr redet wirres Zeug«, sagte Pais angewidert.
»Ich verstehe, dass dein begrenzter Verstand nicht in der Lage ist, zu begreifen, worum es geht, alter Mann.«
»O doch! Ich verstehe, dass Ihr das Flüsternde Buch gelesen habt. Für ein dummes Märchen habe ich diese Geschichten gehalten - ein Wesen, das es in grauer Vorzeit gab: der Transzendente.
Ein abscheuliches Wesen, das weder tot noch lebendig war. Grausam war es. Unterdrückte, folterte und tötete alles und jeden, der sich ihm in den Weg stellte. Der Transzendente konnte aber dennoch besiegt werden. Von einer Gruppe mutiger Männer und Frauen, die ein Portal bauten, welches die Verbindung zu einer anderen Dimension herstellte und dort das bösartige Wesen einsperrte. Und mit ihm die Macht der Transzendenz.
Weil das Tor nicht gänzlich zerstört werden konnte, baute man es auseinander, sodass zwei Tore entstanden. Beide waren jedoch sehr begehrt, weil die Tore Reisen durch die Zeit ermöglichten, und deshalb mussten sie versteckt werden. Und Ihr wollt das Portal wieder aufbauen, um die Macht, die es immer noch beherbergt, in sich aufzunehmen. Die Macht des Transzendenten.«
Koros runzelte die Stirn. Dann klatschte er Beifall und grinste spöttisch. »Ja, das war wirklich schon ein wenig zu einfach. Diese Späher sind doch tatsächlich so dumm, dass sie mir freien Zugang zum Tor verschafften, indem sie die Largonen aus ihrer Stadt verbannten.«
»Dann ist es also wahr. Ihr wollt Euch in den Transzendenten verwandeln? Das ist nicht nur verrückt, es auch nichts als purer Größenwahn!«
»Das ist nicht ganz richtig. Damit wird die Legende über den Transzendenten wieder zur Realität, und ich werde Macht erlangen, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst, alter Mann!
Ich werde zum neuen Transzendenten. Und mit diesem neuen Transzendenten wird auch ein neues Zeitalter anbrechen. Ein Zeitalter, in dem die Späher nichts mehr verloren haben werden. Diese Narren! Das Flüsternde Buch hat es mir so prophezeit. Und bisher ist alles wahr geworden, was es zu mir gesagt hat.«
»Ihr seid wahnsinnig!«, stieß Pais hervor. Der lange Marsch zurück quer durch Truchten unter der Gefangenschaft der Gorgens in den Norden hatte ihm schwer zugesetzt. Ihm schwindelte. Er glaubte jeden Moment, das Bewusstsein zu verlieren.
»Da muss ich dir widersprechen. Ich weiß, wer ich bin und wozu ich in der Lage bin. Verrückt zu werden, das überlasse ich anderen. Nicht jeder dahergelaufene Wicht könnte zum Transzendenten werden. Kein Wahnsinniger könnte das. Das Flüsternde Buch hat viele Jahrhunderte nach einem geeigneten Wirt für die Macht der Transzendenz gesucht, bis es mich gefunden hat. Mich und niemand anderen, verstehst du?
Der erste Transzendente, vor über sechshundert Jahren, war nicht kompatibel mit der Macht. Deshalb scheiterte er und ließ sich besiegen. Aber nun bin ich bereit für diese Aufgabe. Man muss spezielle Fähigkeiten besitzen. Man muss auserwählt sein. Man muss dazu bestimmt sein.«
»Ja, richtig. Fähigkeiten wie Größenwahn und Torheit zählen ganz sicher dazu.«
»Ach, ich spüre deine Kraftlosigkeit und deinen dahinsiechenden Geist, und dennoch versuchst du, mich mit Gespött zu überraschen. Wie erbärmlich.«
Koros nahm daraufhin einen grünen Edelstein von einem seiner Ringe ab, die er an beiden Händen trug, und hielt ihn Pais vors Gesicht.
»Schau her, und du wirst verstehen, alter Mann.«
Koros konzentrierte sich auf den Stein, der auf seiner flachen Hand lag. Der Edelstein begann zu vibrieren. Immer stärker zitterte er in der Hand. Pais trat einen Schritt zurück und schaute ungläubig auf das Geschehen. Koros’ Augen starrten auf den Juwel, der immer mehr erbebte, bis er schlagartig zerbrach. Seine Splitter lösten sich langsam in Staub auf.
»Das ist eine Voraussetzung für die Macht.«
Pais schwieg.
»Der Einzige, der mich verstehen wird, ist Antilius.«
»Warum er?«
»Weil auch er diese und andere Fähigkeiten besitzt. Er wird mir mit seiner Macht die Stirn bieten wollen. Du glaubst nicht, wie sehr ich mich darauf freue! Ich hoffe nur, er schafft es rechtzeitig. Wenn er auch nur einen Bruchteil dessen erfährt, was in ihm verborgen ist, dann wird auch er über diese und andere Fähigkeiten verfügen können. Aber bis es so weit ist, wird es schon zu spät sein. Er wird sehen, was ich vollbringen werde. Er wird sehen, wie ich zum mächtigsten Wesen des Planeten werde, und dann muss er sein endgültiges Scheitern erkennen und eingestehen. Er, welcher der Letzte sein sollte, der mich hätte stoppen können. Und du wirst mir dabei helfen, ihn scheitern zu sehen«, sprach Koros mit feuchten Augen zu Pais.
»Niemals«, sagte der sofort.
Koros beugte sich leicht vor und schaute ihm tief in die Augen. So tief, dass Pais glaubte, sein Kopf würde von seinem Blick durchbohrt.
»O, doch, du wirst. Du wirst mir helfen. Ich sage dir, was du zu tun hast, und du wirst mich verteidigen, und wenn es sein muss, wirst du dein Leben für mich opfern.«
Pais konnte sein Gesicht nicht abwenden. Er war wie gelähmt. Er wollte dem eisigen Blick des Herrschers entfliehen, aber er konnte nicht. Koros’ Stimme hallte in seinem Kopf wider. Immer lauter wurde sie, drang immer tiefer in ihn ein. Sie übertönte alles andere. Sie verhinderte, dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Er konnte überhaupt nicht mehr denken. Da war nur noch diese Stimme.
»Lass mich sehen, was du gesehen hast. Zeige mir, was dich quält. Offenbare mir dein Geheimnis«, sprach Koros, ohne die Lippen zu bewegen. Er war jetzt in seinem Verstand.
Pais konnte sich nicht wehren. Sein Gehirn war eine Kommode von Schubladen. Koros öffnete eine nach der anderen und durchwühlte sie. Gnadenlos. Er durchwühlte seine Erinnerungen. Die guten und die schlechten. Vor allen Dingen die schlechten. Die interessierten ihn am meisten.
»Zeige es mir!«
Nichts blieb mehr verborgen. »Ah! Was haben wir denn da? Eine Flucht? Du bist von den Ahnenländern getürmt, als du noch jung an Jahren warst. Hast Freunde und Verwandte im Stich gelassen? Wie schrecklich! Aber da ist noch mehr. Mehr!
Ein anderer. Er hat dir wehgetan. Er hat dich verletzt. Tiefe Schnittwunden in deiner Seele hinterlassen. Wie gemein von ihm!
Was ist denn das? Rachegefühle. Rache gegen ihn? Gegen deinen eigenen Bruder? Aber Rache passt doch nicht zu dir. Du bist kein Mann der Vergeltung.