Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
diesem sonderlichen Ort. Nur Gilbert war bei ihm. In seinem Spiegel.
Antilius schaute sich um. Gesichter schauten ihn aus den Spiegeln heraus an. Sie beobachteten ihn stumm. Sie gehörten alle einer Person: Brelius Vandanten.
»Was geht hier vor?«, flüsterte Antilius.
Seine Frage fiel in ein Echo. Dutzende Male wiederholte sich seine Frage. Die Gesichter aus den Spiegeln wiederholten sie.
Jedes Gesicht schaute ihn aus einer anderen Perspektive an. Er konnte nichts vor ihnen verbergen. Sie waren alle ein Brelius. Sie starrten ihn von verschiedenen Zeiten oder aus verschiedenen Dimensionen aus an, was auf dasselbe hinausläuft, wenn man Zeit als Dimension betrachtete.
»Wähle den richtigen Spiegel«, sagten die Gesichter.
»Welcher ist der Richtige?« Seine Stimme hallte erneut wider.
»Sei vorsichtig, Meister. Die Späher haben dir eine Falle gestellt. Wenn du durch den falschen Spiegel gehst, ist alles verloren. Der echte Brelius muss in einem der Spiegel sein.«
Wieder verspürte Antilius in diesem surrealen Moment eine gewisse Erleichterung, dass er jemanden bei sich hatte, der einen kühlen Verstand besaß.
»Wähle!«, sagten die Gesichter. »Wähle!«
»Ihr könnt mich nicht täuschen«, murmelte Antilius kühl. Aber welchen Spiegel sollte er bloß nehmen? Welcher war der Richtige?
»Wähle!«
»Schweigt, Trugbilder!«
Die Gesichter verstummten, verharrten aber mit ihren Augen auf ihm.
Sie wollen deinen Verstand. Sie bohren sich langsam in deinen Kopf und saugen ihn dir heraus.
»Komm zu mir, ich bin der echte Brelius!«, sagte eines der Gesichter.
»Nein! Ich! Ich bin der echte!«, rief ein anderes Gesicht.
Antilius verzweifelte beinahe bei dem Gedanken, dass die Späher ihn anscheinend immer noch beobachten konnten. Nur sie konnten hinter dieser Tücke stecken. Sie wollten ihn verwirren. Aber aufhalten konnten sie ihn nicht. Einer dieser Spiegel würde ihn zu dem richtigen Brelius Vandanten führen. Einer dieser Spiegel würde der Richtige sein. Antilius musste nur herausfinden, welcher es sein würde.
Sie können nicht an dich heran. Sie haben dir zwar eine Falle gestellt. Mehr können sie aber nicht tun. Du sollst selber den falschen Weg wählen und würdest dich damit selbst vernichten. Aber den Gefallen werde ich ihnen nicht tun, dachte Antilius.
»Höre nicht auf die anderen! Hierher, zur mir! Hier bist du sicher«, rief wieder ein anderes Gesicht aus einem anderen Spiegel.
Noch ein anderes: »Komm hierher! Ich bin Brelius.«
Und wieder ein anderes: »Hier!«
»Ich bin Brelius!«
»Nein, Ich!«
Alle Gesichter schrien ihn an. Alle Stimmen nahmen für sich in Anspruch, die Wahrheit zu sagen.
Und alle logen sie. Das spürte Antilius.
Sie riefen. Bettelten ihn an. Befahlen ihm, zu ihnen zu kommen.
Antilius konnte es nicht mehr ertragen.
»Wähle!«, schrien sie noch einmal wie aus einem Mund.
Und dann wählte Antilius.
Er sprang in einen der Spiegel und verschwand darin.
Das Versteck außerhalb der Zeit
Antilius hatte es geschafft. Er war durch einen der Spiegel entkommen und fand sich nun an einem Ort wieder, der ihm bereits vertraut war. Es war der Wurmhügel am Stadtrand von Fara-Tindu. Doch war dies nicht der echte Berg. Es war eine Illusion, genauso wie das Gefängnis der Largonen.
Es war ein später Abend, als Antilius den kleinen Hügel außerhalb der Stadt erreichte, auf dem das kleine Haus des Sternenbeobachters Brelius Vandanten stand.
Er sah durch das Fenster und erblickte ein leeres Zimmer. Licht brannte darin. Er wollte schon an die Tür klopfen, als er ein merkwürdiges leises Brummen vernahm. Es schien vom Himmel zu kommen. Er schaute nach oben, sah aber nur den klaren Sternenhimmel.
Dann plötzlich sauste eine leuchtende Wolke über ihn hinweg und verschwand hinter dem Haus. Antilius ging um das Haus herum zur gegenüberliegenden Seite. Ein Mann mit wirrem grauem Haar stand neben einem großen feinmaschigen Käfig, und über ihm schwebten kleine, grüngelb strahlende Kugeln. Es waren die Riesenglühwürmchen.
Die kleinen hellen Kugeln schwirrten spiralförmig über dem grauen Haupt des Sternenbeobachters. Dann änderten sie abrupt ihre Formation und ordneten sich zu einem Kreis. Fasziniert verfolgte der Mann das Schauspiel. Irgendwie beeinflusste er die Bewegungen der Glühwürmchen, ohne dabei eine sichtbare Geste zu machen oder einen Befehl zu geben. Genauso wie Pais es zu tun vermochte.
»Sehr beeindruckend«, sagte Antilius, locker an die Hauswand gelehnt. Er war erleichtert, den Sternenbeobachter endlich gefunden zu haben.
Brelius Vandanten schaute sich erschrocken um. »Wer bist du? Verschwinde!«
»Das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Wisst Ihr eigentlich, was ich durchmachen musste, um Euch zu finden?«
Brelius verkrampfte die Finger und huschte in gebückter Haltung an Antilius heran. »Du bist es! Oder bist du auch nur eine Lüge? Bist du eine Lüge? So wie meine Glühwürmchen hier? Eine Lüge, so wie dieser Ort hier? Sprich!«
»Ich bin so echt, wie ich hoffe, dass Ihr es auch seid.«
Brelius brach in hysterisches Gelächter aus. Es war das Lachen eines Verrückten. Da war Antilius sich ganz sicher.
»Wie hast du mich gefunden? Woher wusstest du, welcher Spiegel dich belügen würde und welcher nicht? Antworte, Antilius!«
»Ich habe denjenigen gewählt, der nichts sagte. Denjenigen, der stumm blieb.«
»Aha!« Brelius war erleichtert. Er rannte ein Stück weg, hielt kurz inne, wobei er ständig mit seinen Fingern spielte und sauste dann wieder zurück.
»Du weißt gar nicht, wie ich mich freue«, sagte er und fing dann plötzlich an zu schluchzen.
»Was ist mit Euch?«, fragte Antilius besorgt.
»Gar nichts!«, schrie Brelius. Jetzt wütend. Seine Emotionen gingen fließend ineinander über. Er begann an seinen Fingernägeln zu kauen. »Ich bin nur verrückt. Das ist alles. Verrückt«, rief er und drehte sich jaulend im Kreis.
Antilius war unsicher, wie er sich verhalten sollte.
»Ich bin ein irrer alter Mann.« Brelius tanzte im Kreis.
Antilius schaute dem grauhaarigen Mann verstört zu. Brelius musste zwar deutlich älter sein als Pais. Doch hier, an diesem sonderlichen Versteck, welches das gleiche Aussehen hatte wie dessen Zuhause, wirkte er uralt.
Brelius beendete seinen Tanz abrupt, schaute Antilius fest an und packte dessen Gesicht mit beiden Händen. »Weißt du, wie es ist, seinen Verstand zu verlieren?«, fragte er ihn mit weit aufgerissenen Augen.
Antilius zeigte keine Reaktion. Aber die Frage machte ihm Angst.
»Es ist wunderbar!«, rief Brelius in den Nachthimmel. »In einer Sekunde ergibt alles einen Sinn. Alles passt zusammen. Alles ist ganz klar. Und in der nächsten Sekunde: Wusch! Alles weg. Die Welt bricht zusammen. Panik breitet sich aus! Und du möchtest nur noch vor dir selbst davonlaufen.«
»Ihr wart aber nicht immer verrückt. Ich habe Euren Stimmenkristall gefunden.«
Brelius sackte innerlich und äußerlich zusammen. »Ja, das habe ich mir gedacht.
Ich war ihnen immer einen Schritt voraus. Ich hatte immer einen Vorsprung. Aber die Späher werden nicht müde. Sie könnten mich ewig