Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
Pais Ismendahl verweilte noch fast eine Mondstunde lang vor der Tür, die ihn fast ein paar Finger gekostet hätte, als sie sich unvermittelt geschlossen hatte.
Er rief fortwährend nach Antilius und Gilbert (ja, auch nach Gilbert), doch konnte er auch nicht den leisesten Ton von der anderen Seite der Tür vernehmen.
Einerseits fühlte er sich schlecht und niedergeschlagen, weil er seine Freunde verloren hatte. Andererseits hatte er schon seit Längerem geahnt, dass Antilius seine Suche alleine würde fortsetzen müssen. Pais hatte ihm geholfen, bis hierher zu kommen. Und hier trennten sich nun ihre Wege. Antilius würde fortan auf sich alleine gestellt sein, allenfalls unterstützt durch Gilberts altkluge und überflüssige Ratschläge.
Zögerlich wandte sich Pais von der Tür zum Dunklen Tunnel ab und schlurfte nachdenklich und erschöpft zurück zur Treppe, die nach oben führte. Gedankenverloren durchquerte er die Räumlichkeiten des Largonen-Gebäudes.
Als er wieder draußen war und die letzten Sonnenstrahlen des Tages sein wettergegerbtes Gesicht berührten, überlegte er, ob sich die Bezeichnung ‚Halle des Schicksals’ auf das gesamte Gebäude bezog oder nur auf den Raum, in dem sich das Zeittor befinden sollte. Es war natürlich unsinnig, sich darüber Gedanken zu machen, doch es lenkte ihn von der plötzlichen Einsamkeit ab, die ihm mehr zu schaffen machte, als er sich jemals hätte eingestehen wollen.
Er überquerte die Zugbrücke am Rande der Festung. Heute schien es schneller als sonst dunkler zu werden. Pais entschied sich daher, nahe einer kleinen Kolonie von Almelienbüschen sein Nachtlager aufzuschlagen. Almelienbüsche waren dornige und dichte Gewächse, die bläuliche und giftige Beeren hervorbrachten. Sie wuchsen meist ringförmig. In der Mitte des Rings würde Pais vor ungebetenem Besuch geschützt sein, oder zumindest würde er alles hören können, das versuchen würde, sich ihm durch das Gebüsch zu nähern.
Die Nacht verlief ruhig. Pais konnte sogar relativ gut schlafen. Obwohl er schon mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte, döste er noch lange, als die Sonne schon hoch am Himmel stand.
Er dachte an die Zeit, als er noch in den Ahnenländern gelebt hatte. In der Stadt der Ahnen, die in einem großen uralten Vulkankrater errichtet worden war. Der Krater war so tief, dass man die Stadt von Meereshöhe aus gar nicht sehen konnte. Er dachte an den großen schmalen Turm, der im Zentrum der Stadt aus dem tiefsten Punkt des Kraters in schwindelerregende Höhe ragte.
Manchmal, nicht oft, aber manchmal vermisste er seine alte Heimat. Er vermisste diejenigen, die er zurückgelassen hatte; jene, die er wohl nie wieder würde sehen können. Er bereute seinen damaligen Entschluss zur Flucht nicht. Niemals hatte er das getan. Auch heute nicht. Es war richtig zu gehen. Der wachsenden Arroganz, die sich in der Stadt der Ahnen wie ein Geschwür ausbreitete, zu entgehen, war schon immer sein Wunsch gewesen.
Und doch konnte er der süßen Vorstellung nicht widerstehen, seine Freunde, seinen Bruder und seine Schwester wiederzusehen. Besonders seinen Bruder. Er hatte in den Ahnenländern eine wundervolle Kindheit verbracht, auch wenn Pais damals immer als ein Außenseiter galt. Das hatte er selbst jedoch nie so empfunden.
Und während Pais immer tiefer in seiner Vergangenheit versank, merkte er nicht, wie ein paar Gestalten nur wenige Meter von ihm entfernt sich leise unterhielten. Erst als drei andere sehr nahe an seinem Versteck im Gebüsch vorbeiliefen, wurde er unsanft aus seinem Tagtraum gerissen und schreckte hoch.
Vorsichtig lugte er durch das dichte Geäst. Das, was er sah, erschreckte ihn zwar nicht, weil er damit schon gerechnet hatte, aber er spürte, wie er zornig wurde. Und wenn Pais zornig wurde, war das kein gutes Zeichen für den Verlauf des Rests des Tages.
Er zählte mehr als zwei Dutzend Gorgens, die dabei waren, sich erheblich aufgeregt hinter ein paar großen Felsbrocken zu verschanzen. Sie unterhielten sich dabei in ihrer merkwürdigen Sprache mit den zischenden und knackenden Lauten.
Sie waren nur knapp vierzig Meter von ihm entfernt.
Pais holte zur Sicherheit seine Armbrust heraus und legte einen Bolzen ein. Die Gorgens waren deutlich in der Überzahl. Wenn Pais sich ruhig verhalten würde, würde er mit ein wenig Glück unbemerkt bleiben.
»Was haben die jetzt schon wieder vor?«, flüsterte er zu sich selbst.
Die Gorgens lugten immer wieder hastig über die Felsblöcke hinweg und schauten auf eine weiter entfernte Stelle. Pais konnte dort nichts Besonderes erkennen.
Die Gorgens wurden immer nervöser. Sie zischten sich gegenseitig an und zappelten wild herum. Sie waren wie in Ekstase.
Pais versuchte immer noch herauszufinden, was sie so sehr erregt hatte, als plötzlich ein gewaltiger, dumpfer Knall alle anderen Geräusche verstummen ließ. Pais riss die Augen auf.
Die von den Gorgens beobachtete Stelle wölbte sich kreisförmig in einem Durchmesser von mindestens fünfzig Metern und explodierte schließlich. Geröllmassen, Bäume, Sträucher und tonnenweise Sand wurden in die Höhe geschleudert und regneten anschließend dröhnend wieder auf die Erde herab. Die Trümmer flogen so weit, dass Pais beinahe aus seinem Versteck hätte fliehen müssen, wollte er nicht von einem der herabstürzenden Brocken getroffen werden.
Es dauerte eine Weile, bis sich der Staub gelegt hatte.
Pais lugte wieder vorsichtig durch das Gestrüpp und konnte den Krater sehen, den die Explosion hinterlassen hatte. Die Gorgens rannten darauf zu und jubilierten dabei.
Ein paar von ihnen kletterten in das große Loch hinein. Weitere folgten ihnen.
Pais ahnte schon, dass sich die Gorgens auf diese Weise einen Zugang zum Zeittor verschaffen wollten, das sich ja unter der Erde befand. Doch wunderte er sich, dass sie dies so weit entfernt von der Largonen-Festung getan hatten.
Was er nicht wissen konnte, war, dass sich das Zeittor unmittelbar unter diesem Krater befand. Der Dunkle Tunnel, den Antilius noch vor Kurzem panisch durchschritten hatte, war so lang, dass er unterirdisch weit außerhalb der Mauern der Largonen-Festung führte.
Doch hatte Koros Cusuar dies bis bisher auch noch nicht gewusst. Er hatte gedacht, man müsse auf jeden Fall in die Festung eindringen, um an das Zeittor heranzukommen. Erst jetzt hatte das Flüsternde Buch ihm verraten, wo sich das Tor wirklich befand. Das Flüsternde Buch verriet Koros nur soviel, wie notwendig war. Denn das Buch traute Koros nicht. Es wollte sicher gehen, dass Koros genau das tat, was das Buch von ihm verlangte. Freudig hatte Koros daraufhin von seinem Schloss aus die Position des Zeittores dem Anführer der Gorgenstruppe, Feuerwind, mitgeteilt.
Pais bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, welche enormen Kräfte Koros Cusuar entfesselt hatte, um an das Zeittor heranzukommen. Eine Sprengung dieser Größenordnung musste mit anderen Mitteln erfolgt sein als mit Schwarzpulver, welches ohnehin viel zu selten war, als dass es für eine solche Sprengung ausgereicht hätte.
Nachdem Pais noch eine Weile den Gorgens zugesehen hatte, beschloss er, diesen günstigen Moment auszunutzen und sich heimlich aus dem Staub zu machen. Er rollte seine Decke, die er zum Schlafen ausgelegt hatte, zusammen, verknotete sie als Rolle auf seinem Rucksack und verstaute anschließend seine Armbrust. Dann wollte er noch einmal durch das Gebüsch spähen, ob die Luft rein war. Doch statt wie erhofft die mit ihrer Arbeit abgelenkten Gorgens zu sehen, blickte er direkt in vier dieser hässlichen gelben Augen zweier Gorgens, die ihn schon eine Weile beobachtet hatten.
Es war zu spät, nach der Armbrust zu greifen. Die beiden Gorgens stürmten blitzschnell hervor und überwältigen ihn. Zwei weitere Kreaturen kamen aus der Luft hinzu.
»Jetzt ist es vorbei mit Schnüffeln, alter Mann«, sagte einer von ihnen.
Spiegelbilder
Antilius fand sich an einem Ort wieder, der irgendwo zwischen Zeit und Raum war. Um ihn herum schwebten lauter Spiegel. Große und kleine. Kreisrunde, rechteckige, quadratische, trapezförmige und ovale. Auch zerbrochene waren darunter. Nur Eines war ihnen allen gleich: Sie waren sehr alt.
Er benötigte einen Moment, um sich von dem kurzen Schwindel,