Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
Gilbert folgte der Aufforderung seines Meisters und war verblüfft zu sehen, dass der Dunkle Tunnel nicht mehr stockfinster, sondern mit zahlreichen Fackeln hell erleuchtet war. »Das ist doch ein gutes Zeichen. Eventuell hat es ja doch funktioniert. Wir sind durch die Zeit gereist. Eine andere Erklärung kann es nicht geben.«
»Na, dann werden wir uns mal umschauen.« Antilius lief den langen hellen Tunnel zurück, zwar mit einem unguten Gefühl, aber dennoch hoffnungsvoll, die Zeitreise erfolgreich gemacht zu haben. Im Hellen hatte der Dunkle Tunnel keine bedrohliche Ausstrahlung mehr. Das Tor, welches ihm vorhin noch den Rückweg versperrt und von Pais getrennt hatte, war offen. An der Treppe angekommen, blieb er vor der ersten Stufe stehen.
Pais war fort. Noch ein Indiz dafür, dass die Zeitreise erfolgreich gewesen war. Aus dem darüber liegenden Erdgeschoss drangen tiefe Stimmen zu ihm hinunter.
»Hörst du das, Gilbert? Da oben ist jemand.«
»Ja. Geh hoch und sieh nach. Sei aber vorsichtig.«
Antilius hörte auf diesen Rat und schlich sich nach oben, wobei er sich an der linken Wandseite hielt. Die Stimmen wurden lauter. Er erreichte die oberste Stufe und lugte um die Ecke. Von hier hatte er einen ausgezeichneten Blick auf den großen Saal, den er mit Pais zuvor im Dunkeln durchschritten hatte. Der Saal war jetzt aber nicht dunkel, sondern von großen Kerzenkronleuchtern beleuchtet. Und er war nicht leer. Etwa ein Dutzend Riesen saß an einem ebenfalls riesenhaften Tisch und diskutierten heftig miteinander. Es waren Largonen. Sie waren vom Körperbau her den Menschen ähnlich. Ihre Haut war trocken wie Pergamentpapier und grau. Außerdem wuchs ihnen jeweils ein kleines Horn aus der Nase, das von unten nach oben gebogen war. Ihre fast kahlen Köpfe bildeten einen sonderbaren Kontrast zu ihren stark behaarten Beinen. Antilius schätzte aus dieser Entfernung, dass die Riesen ihn ungefähr um das Dreifache überragten.
»Largonen. Was machen die denn hier? Ich dachte, die Späher aus dem Stein der Zeit haben sie verschwinden lassen?«, wunderte sich Gilbert.
»Sprich bitte ein wenig leiser! Ich will diese Ungetüme nicht auf mich aufmerksam machen. Ich weiß auch nicht, was die hier machen. Vermutlich sind wir in die Vergangenheit gereist, als die Largonen hier noch gelebt haben.«
Gilbert kratzte sich am Kopf. »Also von diesem ganzen Zeitreise-Zeugs bekomme ich Kopfschmerzen. Das ist alles ziemlich verwirrend. Aber hast du nicht gesagt, die Späher hätten sie aus der Zeit entfernt? Wenn sie entfernt sind, warum leben sie dann noch in der Vergangenheit? Das ist doch auch Zeit«, flüsterte Gilbert.
»Ich versteh das Ganze auch nicht«, sagte Antilius mit pochendem Herz.
Gilberts Einwand war mehr als gerechtfertigt. Waren sie tatsächlich durch die Zeit gereist? Zweifel machten sich bei Antilius breit.
»Was willst du denn jetzt machen?«
»Ich werde Brelius suchen. Ich hoffe, er ist hier irgendwo. Der Sandling wird mich nicht umsonst losgeschickt haben.«
»Willst du dich an den Largonen vorbei schleichen, oder willst du ihnen sagen, was du hier machst?«
»Bist du verrückt? Ich werde auf keinen Fall mit denen sprechen. Pais hat mir gestern erzählt, dass Largonen keine Menschen in ihrer Nähe mögen. Ich muss versuchen, hier unentdeckt herauszukommen«, flüsterte Antilius zurück.
»Was machen sie denn gerade?«
Gilbert und Antilius lauschten der Unterhaltung der Riesen am anderen Ende des übergroßen Saals.
»Ich traue dem Menschling nicht. Menschlinge haben die Eigenart an sich, einem ständig nur Lügen aufzutischen«, grunzte einer der Riesen, dessen Horn, das aus seiner Nase wuchs, nach rechts gekrümmt war.
»Ob Menschling oder nicht, er hat es geschafft, den Spähern zu entkommen. Er ist clever«, sagte ein anderer. Sein Horn war nach links gebogen. Es war das einzige Merkmal, das Antilius ausmachen konnte, um die beiden Sprecher optisch auseinanderhalten zu können.
»Über wen reden die?«, fragte Gilbert.
»Bestimmt über Brelius. Welchen Menschen außer mir sollte es noch hierher verschlagen haben?« Antilius war hoffnungsvoll. Es hatte den Anschein, dass er auf dem richtigen Weg war.
Der Disput der Riesen setzte sich fort: »Er mag clever sein, aber er hat uns nicht die Wahrheit gesagt. Er hat sich feige aus dem Staub gemacht. Wenn ich ihn in die Finger kriege, dann werde ich ihn zermalmen«, sagte der Largone mit dem nach rechts gebogenen Horn.
»Er hat versprochen, dass er uns helfen würde«, erwiderte der linkshornige Riese.
»Lügen!«
»Er hat gesagt, er wisse, wer für das alles verantwortlich ist. Und er sagte, dass noch jemand kommen würde, um uns zu helfen.« Zustimmendes Gemurmel der anderen Largonen. Antilius zählte insgesamt vierzehn und zwei weitere, die als Wachen vor der gegenüberliegenden Tür postiert waren.
»Unsinn! Das sind doch nur dämliche Menschenlügen. Glaube nicht alles, was man dir erzählt, du Schwachkopf!«, grunzte ein Befürworter des rechtshornigen Largonen.
Der Largone mit dem linken Horn nahm eine auf dem Tisch stehende Kristallschale, die mindestens zwanzigmal so schwer war wie Antilius und schmetterte sie mit einem ohrenbetäubenden Wutschrei gegen die Wand. Antilius zuckte verschreckt zusammen.
»Du wagst es, mich als Schwachkopf zu bezeichnen?«, brüllte der gekränkte Largone.
Der andere Riese, der die Beleidigung ausgesprochen hatte, erhob sich von seinem Stuhl und ballte die Faust. Und das war eine Faust! »Für Schwächlinge haben wir hier keinen Platz, Feigling!«
Nun stand der linkshornige Largone auch auf und warf seinem Gegenüber einen finsteren Blick zu.
»Dir werde ich zeigen, wer von uns beiden ein Schwächling und ein Feigling ist.«
Ein Kampf stand bevor und normalerweise ging es bei einem Machtkampf unter Largonen um Leben und Tod. Die übrigen Riesen freuten sich und begannen, rhythmisch mit den flachen Händen auf den Tisch zu schlagen und dabei ständig ein Wort zu rufen.
»TULK!« Das bedeutete übersetzt soviel wie: 'Schlagt euch die Köpfe ein!'
Auch die beiden Wachen verließen ihren Standort und gesellten sich zu den Schaulustigen. Antilius begriff schnell, dass dies seine Chance sein könnte, unbemerkt zu fliehen. Egal, ob einige der Largonen, ihm eventuell helfen würden, wenn er sich ihnen vorstellte. Er wollte nicht zwischen die Fronten geraten.
»Das ist die Gelegenheit«, sagte er zu Gilbert.
Der Largone mit dem linken Horn bereitete sich auf seinen Kampf vor, indem er blitzschnell seinen Stuhl ergriff, ihn auf den Boden schlug und danach ein großes Stuhlbein abbrach. Ideal, um dem anderen damit eins überzuziehen.
Sein Gegner hob ebenfalls einen Stuhl hoch, holte kurz aus und briet ihm dem Linkshornigen über. Krachend zerbrach der Stuhl auf dem Kopf des Largonen. So laut, dass es Antilius schon beim bloßen Zuhören Schmerzen bereitete und er zusammenzuckte.
Den getroffenen Riesen schien der Angriff nicht sonderlich zu beeindrucken, und so nahm er wieder eine Kampfhaltung ein.
»Die machen keine halben Sachen«, staunte Gilbert.
Antilius vergewisserte sich zum letzten Mal, dass alle anwesenden Largonen mit dem Duell beschäftigt waren. Dann rannte er in geduckter Haltung zum gegenüberliegenden Ausgang los. Es gelang ihm, die Gruppe von Riesen zu passieren. Am anderen Ende des Saals schlüpfte er durch die halb geschlossene Tür und bog anschließend nach links ab Richtung Ausgang.
Was er nicht bemerkt hatte, war, dass unmittelbar hinter der Tür eine dunkle Nische im Gang war, in der eine weitere Largonen-Wache saß und sehr über das Vorbeihuschen von Antilius erstaunt war.
»Eindringling! Wir haben einen Menschling hier!«, brüllte die Wache.
Antilius fuhr erschreckt herum und sah, wie die hünenhafte Wache auf ihn zugerannt kam. Im Saal, wo sich die beiden Largonen bis zu diesem