Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
und Antilius wechselten verwirrte Blicke.
Als wäre dies noch nicht genug an Überraschung, sah Antilius irgendeine Bewegung in dem Wasser. Und er glaubte, ein Murmeln aus dem Nass zu hören. Er schaute lange auf die glatte Oberfläche.
»… also muss die Geschichte bis zum Ende erzählt werden«, hat der Sandling gesagt.
Antilius wusste plötzlich instinktiv, was er zu tun hatte. Er kniete sich am Rand des Beckens nieder. Dann holte er tief Luft und tauchte mit dem Kopf unter Wasser.
Pais wollte ihn zurückhalten, doch noch während Antilius mit dem Gesicht die Wasseroberfläche berührte, bedeutete er ihm mit der flachen Hand, dass er warten solle.
Das Rätsel und der Dunkle Tunnel
Unter Wasser öffnete Antilius die Augen. Das Wasser war dunkel, sodass er kaum etwas sehen konnte.
»DU HAST DIE GESCHICHTE BEGONNEN, ALSO WIRST DU SIE ZU ENDE BRINGEN, FREMDER«, sprach eine Stimme durch das Wasser zu ihm. Er zuckte zusammen.
»DIE BEIDEN STERNE AM HIMMEL SAGTEN DEM EINSAMEN MANN, ER DÜRFE NUR EINEM DER BEIDEN STERNE EINE FRAGE STELLEN, UM DEN RICHTIGEN WEG IN ERFAHRUNG ZU BRINGEN. DEN WEG, DER INS LEBEN FÜHRT.
EINER DER BEIDEN STERNE WÜRDE DIE WAHRHEIT SAGEN. DER ANDERE ABER, WÜRDE LÜGEN. DER EINSAME MANN WEISS NICHT, WER LÜGT UND WER DIE WAHRHEIT SAGT. WELCHE FRAGE MUSS DER EINSAME MANN WELCHEM STERN STELLEN, UM DEN WEG INS LEBEN ZU FINDEN?«, fragte die Stimme herrisch.
Antilius - zunächst völlig überrascht - hatte der Stimme konzentriert zugehört. Vor seinem geistigen Auge erschien der einsame Mann, wie er an der Wegkreuzung stand und zu den beiden Sternen aufsah. Nur eine Frage durfte er stellen.
Er überlegte kurz, dann merkte er, wie seine Lunge nach Atem zu rufen begann. Er wollte den Kopf aus dem Wasser ziehen, um dann in Ruhe nachdenken zu können. Doch als er es versuchte, hielt ihn irgendetwas im Wasser fest. Antilius ruckte mit dem ganzen Körper, doch es wollte seinen Kopf nicht freigeben. Das Wasser - es war lebendig. Sofort geriet er in Panik. Pais, der schon die ganze Zeit ein mulmiges Gefühl hatte, durchschaute schnell, dass Antilius Hilfe brauchte. Er umklammerte Antilius’ Schultern und versuchte ihn zurückzuziehen. Doch es war sinnlos. Antilius, der kniend mit aufgestützten Händen weiter vergeblich sich hochzustemmen versuchte, begriff trotz seiner Panikattacke, dass sein Kopf nur lebend das Wasser verlassen würde, wenn er die richtige Frage stellte. Wenn er das Rätsel löste.
Der Drang, atmen zu müssen, wurde immer schlimmer. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Aber nicht mehr lange, wenn er die Lösung dieses Rätsels nicht binnen Sekunden herausfinden würde.
Antilius presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und konzentrierte sich auf die Lösung.
Es war unglaublich, aber es gelang ihm, sich auf das Rätsel zu konzentrieren. Sekunden wurden für ihn zu Minuten. In weiter Ferne hörte er Pais schreien und auch Gilbert konnte er hören. Sie schrien verzweifelt seinen Namen. Doch er war in sich gekehrt. Seine Muskeln entspannten sich. Und dann. Ganz plötzlich, kurz bevor er den Atemreflex nicht mehr unterdrücken konnte und kaltes Wasser seine heiße Lunge füllen würde, kam er auf die Lösung.
»Der einsame Mann fragt einen der beiden Sterne, was der jeweils andere antworten würde, wenn er ihn nach dem Weg zum Leben fragen würde. Beide Sterne würden dann mit ‚Süden’ antworten. Der einsame Mann weiß dann, dass er nach Norden gehen muss. So bekommt er die richtige Antwort!«, rief Antilius im Geiste in das Wasser hinein.
Eine schreckliche Sekunde passierte gar nichts.
Doch dann ließ das Wasser ihn frei. Pais, der unermüdlich an Antilius zerrte, riss ihn überrascht mit einem Ruck aus dem Wasser, und beide fielen nach hinten über.
Antilius krümmte sich auf dem Boden und atmete japsend die kalte, feuchte Luft ein. Jetzt verstand er, was Brelius in seinem Tagebuch gemeint hatte, als er sagte, kurz vor dem Zeittor hatte er das Gefühl gehabt, zu ertrinken.
»Versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst, ohne mich vorher zu fragen. Was immer da im Wasser war, es hätte dich beinahe getötet«, sagte Pais mit kreidebleichem Gesicht.
Antilius brauchte eine ganze Weile, bis er sich wieder erholt hatte. Mit zittrigen Beinen stand er auf und blickte erwartungsvoll zum Tor.
Geh’ auf, du verdammtes Mistding. Geh’ auf!
Es vergingen noch einige Sekunden, in denen bis auf Antilius’ keuchende Atmung kein Geräusch zu vernehmen war.
Doch dann hörten sie ein leises Grollen. Dumpf. Unmöglich zu sagen, wo es herkam.
Steinstaub begann aus der Decke des Gemäuers herunter zu rieseln. Die Blicke waren auf das mächtige Tor gerichtet.
Das Grollen wandelte sich in ein Poltern. Im gleichen Moment begann sich das mächtige Tor nach oben zu erheben. Ganz langsam und schwerfällig, so als ob es sich wehren würde, den Weg freizugeben. Der alte Mechanismus war zuverlässig. Die Spannung ging bis ins Unerträgliche. Was würde sich dahinter verbergen? Was mochte es sein? Was konnte so böse sein, dass es die schlimmsten Ängste gegen einen verwenden würde? Wie sollte das, was Antilius gerade eben widerfahren war, noch an Erbarmungslosigkeit übertroffen werden?
Noch war nichts zu sehen. Nur Dunkelheit. Immer weiter hob sich das Tor. Doch dahinter war nur Dunkelheit.
Das Dunkel.
Wie eine schwarze Wand. Mit einem faszinierten Entsetzen schaute Antilius in das Schwarz des Tunnels, und das Schwarz schaute zurück. Es war erwacht und wartete nun auf ihn. Nur auf ihn. Es wollte herausfinden, womit es ihn schrecken konnte.
Ein dumpfes Bollern vollendete eindrucksvoll den Öffnungsvorgang. Der Eingang war frei.
»Wow!«, sagte Gilbert, der die ganze Zeit wie ein kleines Kind vor seinem Spiegel hin und her zappelte.
Antilius fühlte sich mit einem Mal noch ein Stückchen zittriger und schwächer. Vielleicht war es doch keine gute Idee, das Tor zu öffnen. Vielleicht hätten sie lieber wieder umkehren sollen. Vielleicht wäre es überhaupt besser gewesen, erst gar nicht hierher zu kommen.
Schluss jetzt!, befahl er sich innerlich.
Kehre um, wenn du dich in der Dunkelheit nicht selbst erkennst.
Pais trat ein paar Schritte vor, bis er direkt vor der schwarzen Wand stand. Es sah wirklich aus wie eine Wand. »Hmm, das ist merkwürdig.«
»Was meinst du?«
»Es dringt überhaupt kein Licht von der Fackel in den Tunnel.«
Pais entzündete wieder seine Petroleumlampe und hielt sie in den dunklen Gang.
»Das gibt es doch nicht!« Sie konnten es nicht fassen. Der Lichtstrahl, den Pais in den Tunnel schickte, wurde nirgendwo reflektiert. Keine Wand, kein Fußboden war zu sehen. Das Licht wurde von der Dunkelheit einfach verschluckt.
Pais streckte seinen Arm aus und hielt ihn mutig in den dunklen Gang. Der Kontrast zwischen hell und dunkel war am Übergang so hart, dass man glauben konnte, von seinem Arm fehlte ein Stück, als er ihn in das Dunkel hielt.
»Scheint ungefährlich zu sein«, sagte er und zog seinen Arm sicherheitshalber wieder zurück.
»Wo… Woher willst du da… das wissen?«, stotterte Antilius, der aus seinem Rucksack ein Tuch hervorgeholt hatte und sich damit die eiskalten, nassen Haare abrubbelte. Ihm war entsetzlich kalt.
»Wenn da drin etwas Gefährliches wäre, dann hätte es bestimmt nach meinem Arm geschnappt. Bist du sicher, dass du bereit bist?«
Antilius nickte. Natürlich war er nicht bereit. Aber er konnte jetzt wohl kaum umkehren.
»Keine Angst, ich werde vorgehen«, sagte Pais.
»Gute Idee, ich werde mich garantiert nicht vordrängeln.«
Pais holte tief Luft und trat