Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
du zum richtigen Zeitpunkt dort sein wirst.«
Antilius war skeptisch. Er schwankte zwischen Glauben und Misstrauen. Andererseits hatte er keine andere Wahl. Er musste ihr vertrauen. Er fühlte sich in dieser fremden Wirklichkeit wie ein hilfloses Baby. Er war auf sie angewiesen.
»Du kannst Dinge vorhersehen?«, fragte er.
»Nur vage. Und nur mithilfe des Orakels. Wenn ich etwas sehe, dann sind es meist mehrere Versionen des jeweils selben Geschehens. Aber meistens gelingt es mir, die richtige Version herauszufinden.«
Die Frage aller Fragen: »Werde ich erfolgreich sein?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich habe nur ein Gefühl. Eine unschlüssige Vision. Ich möchte dich nicht verunsichern. Ich sehe viel Widersprüchliches. Ich spüre allerdings, dass Koros sich deiner Gedanken bewusst ist. Das ist sicher. Er erwartet dich bereits und hat Vorbereitungen getroffen. Es wird ein harter Kampf«, flüsterte sie mit traurigem Gesicht. Sie machte ihm damit nicht gerade Mut.
»Warum besitzt er diese besondere Verbindung ausgerechnet zu mir?«, fragte er.
»Weil ihr beide etwas gemeinsam habt. Er ist fähig, diejenigen, die über die besonderen Fähigkeiten verfügen und sie benutzen, wahrzunehmen, egal, woher sie kommen und egal, wer sie sind. Fähigkeiten, die auch er beherrscht. Er selbst hat diese Begabungen vererbt bekommen. Deshalb hat er dich auch erst vor Kurzem bemerkt, als du nach deiner Ankunft auf der Fünften Inselwelt ihm unbewusst deine Fähigkeit offenbart hast. Damit hat er nicht gerechnet.«
Antilius’ Kehle fühlte sich an wie ein ausgetrocknetes Flussbett.
»Ich habe noch eine Frage an dich«, begann er.
Die namenlose Frau schaute ihn geistesabwesend an. Aber sie hörte zu.
»Was ist, wenn ihr euch alle geirrt habt? Der Sandling, Brelius und du. Was ist, wenn ich keine besonderen Fähigkeiten besitze. Was ist, wenn es nur Zufall war, dass Koros mit mir Kontakt aufnahm. Er könnte sich auch irren.«
»Lass deine Worte in deinem Innersten widerhallen. Höre dir selber genau zu. Wiederhole, was du eben bezweifelt hast und dann sage mir, was du glaubst.«
Er antwortete prompt: »Ich kann es nicht erklären, aber ich fühle, dass es kein Zufall war, was bisher geschehen ist. Ich werde es versuchen. Ich will lernen und muss herausfinden, wer ich bin.«
»Du bist ehrlich. Das ist sehr gut«, freute sich die Namenlose.
Antilius nickte entschlossen und wollte so tun, als hätte er keine Angst. Aber als er darüber nachdachte, dass er die Frau nicht ohne Weiteres täuschen konnte, ließ er es wieder bleiben. Im Übrigen war es wenig sinnvoll, sich selbst etwas vorzumachen.
»Also? Wo fangen wir an?«, fragte er stattdessen.
»Das musst du bestimmen. Überlege, welches Ereignis dich in der letzten Zeit am meisten emotional bewegt hat.«
»O, da gibt es so einiges«, stöhnte Antilius. Er ließ die letzten Tage Revue passieren. In dem Speisesaal bei den Largonen hatte er schwere Ängste durchlitten. Vom Dunklen Tunnel ganz zu schweigen. Oder die Trauer beim sterbenden Sandling. Aber dann fiel ihm das Ereignis ein, bei dem er die stärksten Gefühle empfunden hatte. »Bei meiner Ankunft auf Truchten gab es etwas, das mich sehr beeindruckt hat.«
»Was war es?«
»Eine Blüte. Ich weiß, das klingt merkwürdig, aber so war es. Es war eine kleine rot leuchtende Blume mit kreisrunden Blütenblättern. Ich konnte mich gar nicht von ihrer Schönheit abwenden. Aber ihre Schönheit war nicht das Einzige. Ich habe etwas gehört. Eine Stimme. Sie schien von weit wegzukommen. Ich glaube sie …«
»Kam aus der Vergangenheit? Aus der Vergangenheit, an die du dich nicht mehr erinnern kannst?«, fragte seine Begleiterin mit leuchtenden Augen.
Antilius wurde blass und bekam plötzlich eine Gänsehaut. »Ja«, sagte er tonlos. »Ja, ich glaube, so war es.«
Die Frau drehte sich um und pflückte etwas vom Boden.
»War es so eine?« Sie hielt ihm eine graue, verwelkte Pflanze vor die Nase, die nur noch entfernt an eine Blume erinnerte. Aber Antilius erkannte, dass es sich um die gleiche Gattung handelte, die er in der Nähe des kleinen Schienenbahnhofs gefunden hatte.
»Ja. Das kann schon sein. Sie sah allerdings nicht so armselig aus wie die hier.«
»Dann versuche, ihre Kraft und ihre Schönheit zurückzuholen. Und frage mich nicht, wie du es anstellen sollst, sondern versuche es einfach.«
Er befolgte ihre Anweisungen und protestierte nicht, obwohl er keine Ahnung hatte, was er jetzt tun sollte. Er konzentrierte sich auf die verwelkte Blume und stellte sich vor, wie sie aussehen würde, wenn sie gesund sein würde.
Eine ganze Zeit passierte nichts. Antilius bemühte sich, sich noch intensiver auf die Blume zu konzentrieren, aber es half nichts.
»Ich kann es nicht«, klagte er kurzatmig.
»Du darfst dich nicht unter Druck setzen. Du musst es einfach nur wollen.«
Er versuchte es wieder, und dann geschah es auch sogleich. Allmählich richtete die Blume sich auf, sie gewann wieder an Farbe und Stärke und das so weit, dass sie trotz des schlechten Umgebungslichts rot leuchtend in der Hand der namenlosen Frau lag.
Antilius war überwältigt. Er hatte ein Wunder vollbracht.
»Siehst du jetzt, dass du es kannst? Du besitzt die Fähigkeiten, von denen ich sprach.«
»Ich kann es kaum glauben!«
»Das war der erste Schritt. Das sollten wir feiern!«
»Was stellst du dir vor?«
»Bei den zehn Wasserfällen gibt es eine Taverne. Eine Gruppe Beluvianer gibt dort heute ein kleines Konzert.«
»Ihr macht Musik? Hört sich gut an! Ein wenig Entspannung könnte ich schon vertragen.«
Kurz bevor die beiden die Taverne neben den Wasserfällen, die durch eine Anhöhe verdeckt wurden, erreichten, fiel Antilius sein Spiegel wieder ein. Und Gilbert, den er vermisste.
Und in seinem Kopf ging das Gespenst um, das ihm zuflüsterte, dass irgendetwas nicht stimmte. Nur was war es?
Eins nach dem anderen.
»Ich würde noch gerne etwas wissen«, begann er. »Ich lernte auf der Fünften Inselwelt jemanden kennen. Sein Name ist Gilbert. Er war ein Spiegelgefangener, und er hat mich während meiner ganzen Suche nach dem Sternenbeobachter begleitet und mir auch sehr geholfen.«
»War er dein Freund?«
»Ja. Ja, er ist mir ein sehr guter Freund geworden. Ich habe ihn verloren, als ich in diese Welt eintrat, nachdem ich diejenige, in der sich Brelius befand, verlassen hatte. Er war einfach aus dem Spiegel verschwunden. Hast du eine Ahnung, was mit ihm passiert sein könnte?«
Seine Begleiterin schwieg. Ihr beklemmendes Schweigen wurde nur durch das leise Rauschen der Wasserfälle hinter dem Hügel aufgeweicht. Antilius interpretierte es als Unwissenheit über das, was Gilbert zugestoßen sein könnte. Er fühlte sich verantwortlich für seinen Freund und jetzt auch schuldig, dass er ihn mit in diese Sache hineingezogen hatte.
Doch dann lächelte die Namenlose ihn an, ohne etwas zu sagen. Antilius war wieder einmal verwirrt.
Sie sah seine Verwunderung und schaute daraufhin hinüber zum Hügel. Antilius spähte ebenfalls dorthin, vermochte jedoch nicht etwas zu entdecken.
Rufe erklangen. Ganz schwach. Sie gingen fast unter dem Rauschen der Wasserfälle unter. War es ein Hilferuf? Antilius lauschte genauer. Nein, es klang so, als ob jemand lachen würde. Nun war seine Neugier geweckt, und so tigerte er eilig zur Hügelspitze. Die Namenlose folgte ihm.
Der Anblick der zehn Wasserfälle war überwältigend. Sie waren nur knapp fünf Meter hoch und ergossen sich in einen kleinen See. Das aufgeschäumte Wasser sah in dem diffusen Umgebungslicht aus