Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix

Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix


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Gras, kein Baum und kein Lebewesen waren dort. Nur graues, totes Gestein unterstrich die elende Tristesse.

      Es war nicht nur eine einfache Schlucht, es war, als hätte sich die Erde an dieser Stelle aufgetan. Und wenn man hinuntersehen würde, könnte man ihr brodelndes Inneres erblicken.

      Die Legende musste wahr sein. Ein derart gewaltiger Graben konnte unmöglich natürlichen Ursprungs sein.

      Valheel war es, der diesen Spalt in den Fels getrieben hatte und die Ahnenländer vom Rest der Inselwelt Truchten getrennt hatte.

      An diesem Platz war der Transzendente in das Portal gesperrt worden. Für ewig hatte er verbannt sein sollen.

      In einem Halbkreis zur Schlucht auf der Seite von Truchten ragten sechs Statuen aus Stein in den Himmel. Sie stellten gesichtslose Mönche dar, welche die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt hielten, so als wollten sie sich an Händen halten. Die Figuren waren für Haif unfassbar hoch. Er schätze ihre Höhe auf vierzig oder gar fünfzig Meter. Ursprünglich bildeten zwölf dieser Steinskulpturen einen geschlossenen Kreis. Das musste zu der Zeit gewesen sein, als die Erdspalte, die sich mit Meerwasser gefüllt hatte, noch nicht existiert hatte. Die anderen sechs Monumente fußten auf der anderen Seite der Schlucht, in den Ahnenländern. Nie wieder würden sie eine geschlossene Einheit bilden können. Der aufgebrochene Kreis war das Symbol für die Unwiderruflichkeit des Sieges der Ahnen über den Transzendenten vor über sechshundert Jahren.

      Der Triumph der Ahnen über das Böse würde nach Hunderten von Jahren ein jähes Ende finden, und der Transzendente würde erneut über die Länder herfallen und sie verwüsten.

      Erst jetzt erfasste der kleine Sortaner, für den sonst nur der Gewinn die oberste Maxime war, die Tragweite der gegenwärtigen Ereignisse.

      Er fühlte sich klein und unbedeutend, als er nach Nordwesten zur anderen Seite der Schlucht blickte. Links und rechts der Steinstatuen auf der Ahnen-Seite berührten hinter einer schmalen Hügelkette die Gipfel des Adler-Gebirges die Wolken. Das Adler-Gebirge war nicht, wie Haif es vermutet hatte, eine geschlossene Gebirgsformation, sondern rahmte die Barriere von Valheel nur von den beiden Seiten her ein, wobei in der Mitte ein Tal den Weg ins Innere der Ahnenländer ebnete.

      Auf einmal bekam es Haif doch mit der Angst zu tun. Was wollte er hier? Er konnte doch nichts ausrichten!

      Nein. Er war gekommen, um dem Menschen zu helfen. Ihn zu befreien, falls sich eine Möglichkeit dazu ergeben sollte. Wenn er schon nicht die Welt retten konnte, dann vielleicht wenigstens ein Leben.

      Allerdings begann Haif auch daran zu zweifeln. Irgendetwas war mit Pais geschehen. Er war anders. Während der letzten drei Tage hatte sich Haif mehrmals die Möglichkeit geboten, den vermeintlich gefangenen Menschen zu beobachten. Und sein Verhalten stimmte absolut nicht mit seinen Vorstellungen einer Gefangenschaft überein. Pais schien fast aus eigenem Willen dem Herrscher zu folgen. Bestimmt wurde er irgendwie manipuliert. Jedenfalls war das nicht der Pais, den Haif das letzte Mal gesehen hatte.

      Beobachten. Das würde das Einzige sein, was der Sortaner in den nächsten Mondstunden tun konnte. Und nichts Unüberlegtes tun.

      Ein kleiner Vorsprung vor dem Herrscher ermöglichte es ihm, sich ein kleines Versteck am Waldesrand etwa zweihundert Meter entfernt vom Abgrund einzurichten.

      Es dauerte nicht lange, bis die Armee aus den Finsteren Ebenen von Koros zur Schlucht angekommen war.

      Und sie wurde schon erwartet.

      Von der vereinten Gegenmacht der Dreizehn Häuser der Ahnenländer auf der anderen Seite der Barriere von Valheel.

      Lange Zeit hatte Koros auf diesen Moment gewartet.

      Das Flüsternde Buch verschlimmerte von Tag zu Tag seine kranke Sehnsucht nach der Macht der Transzendenz. Darin war das Buch wirklich gut. Mit unzählbar vielen Möglichkeiten, Schaden in der ihm verhassten Welt anzurichten, vergiftete es seine Gedanken. Koros lebte regelrecht in seinen Fantasien. Eigentlich war er ein bedachter und vorsichtiger Mensch. Und fast hätte er erkannt, dass alles zu perfekt zu laufen schien. Aber ehe die Saat des Zweifels bei ihm keimen konnte, überflutete das Flüsternde Buch Koros mit seinen Wahnvorstellungen. Es waren Fantasien über seine Zukunft. Eine Zukunft, die er ohne Hürden gestalten und jederzeit verändern würde, ganz nach seinem Belieben und seinen Launen. Als Transzendenter, so glaubte er, würde er über Macht verfügen, die ihn zum Gebieter über Raum und Zeit machen würde. Das Jetzt hatte für ihn keine Bedeutung mehr. Seine Gefährten hatten für ihn keine Bedeutung mehr. Sogar Wrax war ihm egal. Er war für ihn nur noch ein einfaches Werkzeug, das man wegwirft, wenn man es nicht mehr braucht.

      Das Buch wusste ganz genau, was Koros hören wollte. Das Buch sprach zu ihm, obwohl Koros es nicht zur Barriere von Valheel mitgenommen hatte. Er hatte es in der kleinen Kammer in seinem Palast gelassen, weil es dort sicherer war. Das Flüsternde Buch hatte ihm gesagt, dass er es nicht mitnehmen dürfe, weil es zu gefährlich sein könnte. Aber er solle sich nicht sorgen, denn das Buch würde trotzdem immer zu ihm sprechen und ihm sagen, was zu tun sei. Ihn lenken, wie es sich ausdrückte. Und ihn nicht allein lassen.

      Ja, das Buch war äußerst listig. Die Macht der Transzendenz war in der Tat gewaltig. Aber das Buch würde es niemals zulassen, sie Koros allein zu überlassen. Koros war in Wahrheit nur ein williges Opfer. Davon durfte er nichts erfahren. Denn hier waren höhere Mächte am Werk, von denen niemand etwas ahnte. Mächte, mit denen es Antilius noch zu tun bekommen würde.

      Die Stimme des Buches füllte fast die gesamte Gedankenwelt von Koros Cusuar aus. Lediglich Antilius spielte in seinem Denken noch eine Rolle. Koros wollte ihm beweisen, dass er selbst derjenige sein würde, der als Sieger vom Schlachtfeld ging. Antilius, der von der Veränderbarkeit der Welt zum Guten glaubte, der für Werte stand, die Koros niemals erfahren hatte, sollte eines Besseren belehrt werden. Es würde - vor dem Hintergrund seiner Vergangenheit, die ihm ein Rätsel war - die Lektion seines Lebens sein. Doch Antilius würde nur der Anfang sein.

      Nur der Anfang, dachte Koros überhitzt.

      All jene, die jemals über Koros gelacht, ihn verspottet oder nur missachtet oder übersehen hatten, würden eine Lektion erteilt bekommen. Sein Blick war der Welt entrückt. Sein Wille war eisern. Sein Denken vernarrt.

      Mit dem Lächeln eines Wahnsinnigen verfolgte er das Geschehen auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht, die seine Armee am Vormittag erreicht hatte.

      Wie genau die Dreizehn Häuser der Ahnenländer von seinem Einmarsch erfahren hatten, war ihm unbekannt. Koros wusste, dass die Bewohner der Ahnenländer großen Wert auf traditionelle Riten und Bräuche legten. Wahrscheinlich besaßen sie Wahrsager, Orakel oder etwas Ähnliches, die sie beratend unterstützen sollten. Es war ihm aber ohnehin, wie alles andere, mittlerweile gleich.

      Der Nebel vom Morgen hatte sich weitestgehend verzogen, trotzdem war es ein mit Wolken verhangener und trüber Tag.

      Die Entfernung war zu groß, um mit bloßem Auge Details zu erkennen. Sicherlich würden sämtliche Geschütze auf der anderen Seite aufgefahren, um dem Aggressor zu widerstehen. Koros sah ein paar größere hölzerne Geräte, die am gegenüberliegenden Rand aufgestellt worden waren. Er hielt sie für Katapulte.

      Die Dreizehn Häuser waren jedoch schlecht vorbereitet. Dafür hatten sie einfach nicht genügend Zeit gehabt. Wer immer sie gewarnt hatte, wie immer sie es erfahren hatten, dass ihre Ruhe gestört werden würde, sie würden nicht vorbereitet sein. Nicht auf das, was Koros über Jahre hinweg in vielen einsamen Nächten ausgetüftelt hatte. Ein paar kleine Spielzeuge hatte er erfunden, wie die Druckluftbomben. Es waren keine gewöhnlichen Bomben. Schießpulver war extrem teuer und selten. Nein, die Bomben, die Koros entwickelt hatte, verursachten keine Explosion mit Feuer. Sie erzeugten eine gewaltige Druckwelle, die sich kreisförmig ausbreitete und ihre Ziele einfach wegpustete. Sie würden im bevorstehenden Kampf eine entscheidende Rolle spielen. Das Flüsternde Buch hatte ihm die Baupläne verraten.

      Zu diesen kleinen Spielereien gesellte sich noch die Tatsache, dass er mit seiner


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