Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
jemand anderen aufzuspüren, der die Augen hat.«
»Was ist mit meinen Augen?«
»Die Überlieferung besagt, dass derjenige, der die Augen hat, die Fähigkeit besitzt, den Transzendenten und den Dunkelträumer zurückzuweisen. Die Augen des Auserwählten, die im Mondlicht des Mondes Quathan silbern leuchten. Dieses Wesen bist du, Antilius. Wir spüren es. Der Sandling hat es gespürt. Und auch Koros weiß von deinen Augen«, sagte Wissen.
Antilius schüttelte verwirrt den Kopf. »Tut mir leid, aber meine Augen leuchten nicht im Mondlicht. Das wäre bestimmt mir oder jemand anderem aufgefallen.«
»Weil du noch zu wenig über dich selbst weißt, leuchten sie nicht. Weil du nicht glaubst«, sagte Hoffnung und wechselte dann mit seinen Artgenossen ein paar fragende Blicke.
Hoffnung war selbstverständlich von Antilius’ Fähigkeiten überzeugt. Wissen nahm bezüglich der Erfolgsaussichten keine Stellung.
Furcht tat das, wozu er bestimmt war: »Er wird es nie schaffen. Unmöglich! Er glaubt nicht. Er ist hin- und hergerissen. Seine Zweifel blockieren seine Fähigkeiten. Er wird scheitern. Ganz bestimmt«, hechelte Furcht panisch.
»Sei still! Du entscheidest nicht für ihn. Er weiß ganz genau, worauf er sich einlässt. Er lässt sich nicht von seiner Furcht, nicht von dir leiten«, erwiderte Hoffnung.
Antilius verfolgte den Streit seiner beiden Ebenbilder mit Argwohn. Er hing an einer Felswand und wurde Zeuge eines Konfliktes zweier Motive seiner selbst. Das war mehr als surreal.
»Hört auf!«, fuhr er schließlich dazwischen. »Wenn ich Koros besiegen soll, muss ich ihn verstehen. Warum besitzt er diese Fähigkeiten wie die Telepathie und die Macht, in die Träume anderer einzudringen?«
»Koros hat diese Fähigkeiten geerbt. Sie stammen noch aus jener Zeit, in welcher der Dunkelträumer auf Thalantia gelebt hat. Allerdings schwinden diese Fähigkeiten mit jeder neuen Generation immer mehr. Es gibt heute nur noch sehr wenige, die derartige Fähigkeiten besitzen und viele, die sie in sich tragen, sind sich ihrer gar nicht bewusst. Koros jedoch hat seine Fähigkeit früh erkannt und kultiviert. Deshalb glaubt er, er sei auserwählt, zum Transzendenten zu werden.«
Antilius nickte nachdenklich. »Wie kann ich Koros vernichten? Und bitte: Einen klar verständlichen Vorschlag will ich hören und keine vagen Andeutungen.«
»Niemand wird dir sagen können, wie man ihn besiegen kann. Du bist auf dich allein gestellt. Das Einzige, was wir vorhergesehen haben, ist, dass du eine Entscheidung treffen musst«, sagte Wissen ausdruckslos.
»Was für eine Entscheidung?«
»Das Bild aus der Zukunft war zu vage. Zu ungenau.«
»Na toll! Dann hat es sich ja gelohnt, herzukommen«, sagte Antilius missmutig.
»Siehst du! Ich habe ja gesagt, dass er aufgeben würde«, ereiferte sich Furcht.
»Schweig! Ich werde nicht aufgeben«, fuhr Antilius Furcht an.
»Antilius, du hast deinen Feind kennengelernt. Dreimal hast du mit ihm gesprochen. Nutze seine Schwächen, die du erspürt hast. Überrasche ihn mit dem, was er am wenigsten erwartet«, sagte Wissen eindringlich.
Antilius war zwar ziemlich sauer, weil er wieder einmal im Dunkeln tappte. Doch Wissens Hinweis war für ihn mehr als nur eine vage Formulierung.
Koros mit demjenigen überraschen, das er am wenigsten erwartete? Das ergab einen Sinn. Endlich!
»Wie kann ich zurückkehren?«, fragte er.
»Wenn du bereit bist, dann werden wir dich zurück in deine Welt bringen. Doch zögere nicht mehr allzu lange. Es wird bald soweit sein. Das Portal steht kurz davor, geöffnet zu werden.«
Antilius hing eine ganze Weile schweigend an der Felswand und dachte nach. Seine drei Ebenbilder schauten ihn dabei hoffnungsvoll an. Dann ganz langsam entwickelte sich ein Plan in seinem Kopf.
Ja. Ja, so könnte es gehen.
»Ich habe nicht vor, noch länger zu zögern. Ich weiß jetzt, was ich tun muss. Doch ich muss euch noch um einen Gefallen bitten«, sagte er hellwach.
»Sprich!«, forderte ihn Wissen bereitwillig auf.
»Koros ist nicht allein. Seine Leute werden mich nicht an ihn heranlassen. Aber ich muss an ihn heran.«
»Sie werden dich töten, bevor du auch nur seinen Namen rufen kannst«, jammerte Furcht.
»Da stimme ich Furcht ausnahmsweise zu. Deshalb werde ich Unterstützung brauchen.«
»Was hast du dir vorgestellt?«
»Es gibt da jemanden, der mir helfen könnte.« Antilius erklärte, wie er vorgehen wollte. Furcht wendete ein, dass dieser Plan viel zu gefährlich sei. Nicht nur gefährlich für Antilius, sondern gefährlich für das Orakel. Doch da Furcht in diesem Moment ein Teil von Antilius war, spürte Furcht, dass er seinem Original vertrauen musste. Antilius war sich nicht sicher, ob das Orakel das fertig bringen konnte, was er verlangte. Doch alle Stimmen des Orakels versicherten ihm, dass es möglich wäre, seinen Wunsch zu erfüllen, auch wenn es dem Orakel sehr viel Lebensenergie entziehen würde. Aber es wäre bereit, es zu tun.
Auch wenn es dabei selbst sterben könnte.
Der Gegenschlag
Kaum war das donnernde Echo der herabgestürzten Brücke in der Barriere von Valheel verklungen, kletterten lautlos grünbraune, echsengleiche Kreaturen die Felswände empor. Sie wollten nachsehen, wer sie gestört hatte. Wer sie aus ihrem endlos scheinenden Schlaf gerissen hatte. Und sie wollten sich für diese Frechheit rächen.
Es waren vier Echsen. Jede von ihnen war aufgerichtet über fünfzehn Meter groß.
Sie sahen nicht unbedingt aus, wie man sich Echsen als Überbleibsel aus der Urzeit vorstellt. Sie waren gereifter und intelligenter. Sie konnten miteinander kommunizieren. Ihr Kopf schimmerte dabei in einem leichten Rot.
Mit geübten und nahezu lautlosen Bewegungen kletterten die Wesen entlang der senkrechten Felswand hoch bis zur obersten Kante. Koros' Truppen befanden sich indes in einem heillosen Durcheinander. Hastig wurden neue Seile für die Ersatzbrücke geknotet. Es wurde viel geschrien und kommandiert. Keiner verschwendete einen Blick auf die Schlucht.
Der perfekte Moment für einen Überraschungsangriff.
Vorsichtig lugten die Echsenköpfe über den Hang. Ihre großen Krallen boten ihnen sicheren Halt an der zerklüfteten Steilwand.
Auf der anderen Seite der Schlucht, der Ahnen-Seite, nahm man das Auftauchen der Wächter von Valheel mit einer Mischung aus Ehrfurcht und freudiger Überraschung zur Kenntnis.
Eines der Reptilien öffnete sein schleimiges Maul, das eine spitze rosarote Zunge enthüllte. Das Riesenvieh rollte den Zungen-Fleischberg nach hinten ein. Eine kleine Öffnung kam zum Vorschein. Die Echse atmete zischend ein, hielt kurz inne und presste dann mit der eingezogenen Luft einen halben Meter langen Dornenpfeil aus der Öffnung in ihrem Unterkiefer.
Der Pfeil rauschte durch die Luft und durchbohrte eines der Borus. Das Gift, das der Dorn an seiner Spitze mit sich führte, ließ das Boru auf der Stelle umfallen und sterben.
Koros war der Erste, der übermenschlich schnell herumfuhr und dem ungebetenen Besucher in die riesigen, kalten Augen starrte.
»An die Waffen! Wir haben ungebetene Gäste«, brüllte er.
Sogleich kletterten die restlichen Echsen aus ihrer Deckung und machten eine Drohgebärde, indem sie sich auf die Hinterbeine stellten und ihre Vorderkrallen ausfuhren.
Die Echsen rollten ebenfalls ihre Zungen nach hinten und ließen einen wahren Dornenhagel über ihre Opfer prasseln. Keiner der Dornenspeere verfehlte sein Ziel. Einer nach dem anderen fielen Koros’ Kämpfer den Giftpfeilen zum Opfer. Manche von den kleineren Geschöpfen der Finsteren Ebenen und einige Greifer wurden durch die