Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
Nach dem Sieg über die Verteidiger der Ahnenländer ging alles sehr schnell. Jeder musste anpacken, um die verlorenen Borus zu ersetzen.
Die Ersatzbrücke wurde ächzend herabgelassen. Diesmal mit Erfolg. Als sie auf der anderen Seite aufschlug, hielt sie der Belastung stand.
Wrax’ Wunsch, dass auch diese Brücke abstürzen würde, erfüllte sich nicht.
In kleinen Grüppchen marschierten die Kämpfer des verrückten Herrschers über das zerbrechliche Konstrukt.
Sie hält. Verdammt, sie hält!, dachte Wrax niedergeschlagen.
Fast die gesamte Ausrüstung wurde über die Schlucht getragen, darunter auch die beiden verhüllten Fragmente, die schon sehr bald das Portal bilden sollten. Sogar die Katapulte ließ Koros hinüberschaffen. Da diese jedoch zu schwer für die Brücke waren, mussten die übrig gebliebenen Gorgens die Katapulte einzeln über die Schlucht im Fliegen transportieren.
Auch Wrax musste die Schlucht überqueren. Er erwog, sich zu weigern, doch dies hätte seinen sofortigen Tod bedeutet.
Nachdem er die andere Seite erreicht hatte, bedauerte er auch schon seinen Entschluss. Sein Erster trällerte ihm Lobtiraden ins Ohr. Es sei alles wunderbar verlaufen. Besser, als er es sich vorgestellt hätte. Wrax drehte sich derweil der Magen um.
»Wrax, ich weiß, Ihr verabscheut mich. Ich kann es fühlen. Doch wartet ab. Ihr werdet sehen, dass es sich gelohnt hat. Ihr werdet erkennen, dass ich recht habe.«
Der Berater schwieg.
Koros schaute zu den Bergen der Ahnenländer, die das ersehnte Gestein, das Avionium, in sich bargen. »Ah! Ich kann seine Energie förmlich in der Luft fühlen. Ich fühle sie am ganzen Körper. Es ist äußerst stimulierend. Fühlt Ihr es nicht auch, Wrax?«
»Ich vermag diese Stimulans nicht zu verspüren«, entgegnete Wrax emotionslos.
Koros war von der Kälte, die sein Berater plötzlich ausstrahlte, überrascht. Längst waren die Erinnerungen aus seinem Kurzzeitgedächtnis gestrichen, in denen er ihm den Tod angedroht hatte.
»Wrax?«
»Ja, Erster?«
»Helft mir, das Portal aufzubauen. Helft mir, mein Werk zu vollenden! Ich verspreche Euch, dass es das Letzte sein wird, das ich von Euch verlange.«
»Das glaube ich Euch gern. Ihr werdet mich anschließend töten. Ist es nicht so?«
Koros machte einen beschämten Gesichtsausdruck. Fast hätte er Wrax damit überzeugt.
»Nein. Ich habe Euch so viel zu verdanken. Ich habe wohl vorhin die Kontrolle über mich selbst verloren.
Wenn Ihr mir helft, Wrax, und wenn ich zu dem geworden bin, wozu ich bestimmt bin, dann werde ich Euch ziehen lassen. Als freier Mann. Ihr könnt dann tun und lassen, was immer Ihr wollt.«
Wrax musterte seinen Ersten ganz genau. Er glaubte ihm nicht. So wundervoll das Angebot auch klingen mochte. Er glaubte ihm nicht. Doch er war sich nicht mehr sicher, was er noch glauben sollte. »Und was ist, wenn ich mich weigere, das Portal aufzustellen?«
Koros lächelte schwach. »Das werdet Ihr nicht.«
Und er sollte recht behalten. Wrax übernahm die Leitung des Aufbaus. Nicht aus Überzeugung, sondern aus einer aberwitzigen Ahnung, dass noch etwas geschehen würde. Etwas, das selbst sein Erster nicht vorhersehen konnte.
Etwas Unvorhersehbares, das alles noch zum Guten wenden könnte.
Während die Arbeiten zum Aufbau des Portals begannen, bemerkte Wrax, dass Koros sich mehrmals umsah. Er schien nach etwas Ausschau zu halten.
Womöglich nach dem Unvorhersehbaren?
Wrax war aber auch wachsam. Nur galt seine Aufmerksamkeit nicht dem Unvorhersehbaren, sondern dem Vorhersehbaren: Nicht alle Teile der gegnerischen Armee war von den Druckluftbomben erfasst worden. Ein kleiner Rest hatte sich hinter der Hügelkette, die dem Adler-Gebirge vorgelagert war, verschanzt und blieb in Lauerstellung. Sie würden zwar nicht angreifen, weil sie das mit Sicherheit nicht überleben würden, aber man konnte nie wissen.
Unterdessen war Haif buchstäblich über seinen eigenen Schatten gesprungen.
Auf seiner Seite der Schlucht waren fast alle Angehörigen von Koros' Armee verschwunden und zur Ahnen-Seite gegangen. Die Luft war also rein für Haif: Er wartete ab, bis die letzte Transportkarre sich anschickte, über die Brücke zu rollen, und dann sprang er beherzt hinten auf.
Zwischen den mit weiteren Druckluftbomben beladenen Fässern versteckt, überquerte er unbemerkt die tödliche Schlucht.
Das Portal des Transzendenten
Das Zeittor, das die Gorgens aus dem Erdinneren vor der Largonen-Festung regelrecht heraus gesprengt hatten, wurde rasch vor der trüben Silhouette des Adler-Gebirges errichtet.
Der Tag neigte sich dem Ende zu.
Das Buch mit den für Antilius leeren Seiten hatte Koros zugeflüstert, wo genau das erste Teil des Portals errichtet werden musste. Nahe der Schlucht sollte es stehen. Denn dort befand sich der Brennpunkt, an dem die Energie des Avioniums aus dem Adler-Gebirge auf das Portal fokussiert werden würde.
Nachdem das erste Fragment, das würfelförmige Gerüst der Largonen, aufgestellt worden war, überzeugte sich Koros zunächst von dessen einwandfreier Beschaffenheit.
Behutsam strich er mit seinen Fingerspitzen über die fremdartigen Einkerbungen der Verstrebungen des Zeittores. Jene Einkerbungen waren nicht zur Verzierung vorgesehen. Sie waren eine Botschaft. Eine Botschaft, geschrieben in einer vergessenen Sprache. Sie erzählte von der Vernichtung des Transzendenten. Von seinen letzten Schandtaten. Und sie erzählte von der Macht des Transzendenten. Die Macht, die sich nach seinem Tode von seinem Körper getrennt hatte und seither im Portal eingeschlossen war und darauf wartete, befreit zu werden.
Zum ersten Mal sah Wrax das erste Fragment in voller Größe und Erhabenheit. Es schaute überhaupt nicht bedrohlich aus.
»Jetzt dürft Ihr das zweite Fragment holen. Ich mahne Euch noch einmal zu absoluter Vorsicht!«, ordnete Koros ungewöhnlich ruhig an.
Das zweite Fragment hatte Wrax noch nie gesehen. Er wusste nur, dass es in das Würfelgerüst irgendwie eingebaut werden sollte. Der Berater vermutete, es handele sich ebenfalls um eine Konstruktion, da es schließlich auch ein Zeittor sein sollte. Aber das, was Koros vor einigen Jahren tief vergraben in der Erde fand, war kein Bauwerk.
Vier Männer hoben ein etwa zwei Meter langes und ebenso breites Ding, das in Leinen eingehüllt war, von einer Transportkarre. Sie trugen es anscheinend ohne großen Kraftaufwand zum Zeittor der Largonen, das nur wenige Meter vom Abgrund entfernt stand. Dann legten sie das Ding in die Mitte des Gerüstes hinein und enthüllten es.
Zum Vorschein kam ein gigantischer Kristall. Das war jedenfalls die erste Assoziation, die Wrax machte. Er war so klar, wie es nur ein Kristall sein konnte. Doch es konnte unmöglich einer sein. Einen Kristall, der die Größe eines ausgewachsenen Menschen hatte, konnte es nicht geben.
Wie auch immer, der weiße Kristall verbreitete eine erbarmungslos lähmende Schönheit.
Koros nickte stolz. Der Kristall, der die Form eines Oktaeders besaß, war wohl sein bestgehütetes Geheimnis. Der Herrscher musste schmunzeln, als er sich erinnerte, dass er damals den Kristall mit bloßen Händen ausgegraben hatte. Er erinnerte sich, wie der Kristall zu leuchten begann, als er ihn das erste Mal berührte.
Die vier Träger des Kristalls gingen beiseite und überließen von nun an dem Herrscher das Terrain.
»Wrax!«
Wrax kam.
»Geht nach dort«, sagte Koros und zeigte zu der Hügelkette, hinter der sich die Reste der Ahnen-Armee versteckt hielt.
Territoriumsmarkierer, wie Wrax