Dark World I. Tillmann Wagenhofer

Dark World I - Tillmann Wagenhofer


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„Hilf…mir…Wasser…!“, brachte er mühsam heraus. Das unnatürlich gekrümmte Bein des Gestraften sprach Bände über den Grund seines Zustandes. Er musste gestürzt sein, weshalb auch immer – und war nun dabei, elend zu verdursten. Zwei tote Hunderatten hatten wohl schon ihr Glück versucht, wie man an den beiden Kadavern sehen konnte, aber das Blut der toten Biester würde weitere Raubtiere anlocken. Kein schöner Tod, auch nicht für einen Gestraften. Die junge Frau stand da, rang mit sich. Du bist eine Ritterin, sagte sie sich, als der Selbsterhaltungstrieb ihr zuschrie, einfach weiter zu gehen. Ritter lassen Verletzte nicht in ihrer Not umkommen. Höhnisch meldete sich ihr Verstand und sagte ihr, dass sie keine Ritterin war – und es nun, nachdem, was geschehen war, auch nie sein würde. Sie schluckte trocken, aber der Gedanke daran, diesen Verletzten hier verrotten und lebend von allerlei Tieren zerfleischen zu lassen, war zu schrecklich. Niemand verdiente ein solches Ende. Sie nahm ihre Feldflasche, die sich schon jetzt beunruhigend leicht anfühlte. Bestenfalls zur Hälfte reichte das lebenswichtige Nass darin noch.

      Dennoch stand ihr Entschluss fest – und sie hatte, trotz ihrer Jugend, den Charakterzug verinnerlicht, dass sie an einem gefassten Entschluss festhielt. So ging sie neben dem Verletzten in die Hocke und setzte die Feldflasche an dessen Lippen. Zugegeben, sie musste einen gewissen Ekel überwinden, was dem furchtbaren Aussehen und dem Geruch der Gestraften geschuldet war. Doch als dieser die Augen öffnete und begierig trank, spürte sie, dass das, was sie da tat – trotz ihrer Ausbildung und dem, was man ihr verächtliches über Gestrafte beigebracht hatte – gut und richtig war. „Trink’ langsam…nicht zu schnell“, riet sie dem Verletzten, der sich redlich Mühe gab, ihrem Rat zu folgen. Indessen musterte sie das offensichtlich gebrochene Bein. „Deine einzige Chance ist, wenn ich es schiene“, meinte sie nachdenklich. Der Gestrafte, dessen Alter man unmöglich schätzen konnte, schaffte irgendwie ein humorloses Grinsen. „Ich…wäre dir sehr dankbar…“, meinte er mit kratziger Stimme. Die junge Frau nickte. „Hm, ich suche nach geeigneten Ästen. In einer Meile oder so…da waren einige alte Bäume“, überlegte sie. Toll, sagte die Selbsterhaltung in ihr. Willst du vielleicht die Leute des Lords noch hierherlocken, damit du auch sicher erwischt wirst? Sie ignorierte die Stimme. Ich mag getötet haben…aber nie werde ich das ohne Not tun. Oder auch nur einen Hilflosen sterben lassen, dachte sie entschlossen. Sie griff rasch in ihre umgehängte Rückentasche und nahm einen Apfel heraus – einen von zwei, die sie noch besaß. „Du isst den hier, bis ich zurück bin“, sagte sie, reichte dem Gestraften die Frucht. Der nahm sie wortlos entgegen, biss ohne langes Zögern hinein.

      Das Mädchen ging den Weg zurück, den sie gekommen war, bis sie bei einer Gruppe von alten Bäumen angelangte. Die Blätter waren erstaunlich dicht, bildeten ein gelbes Dach. Wie bei den meisten Ödland-Bäumen war auch dieses Holz sehr trocken, so dass viele Äste herumlagen, die in der Trockenheit nicht gammlig wurden. So konnte die junge Frau genügend davon finden, um sowohl eine Schiene für das Bein des Gestraften, als auch für ein Lagerfeuer zurück zu tragen. Der Weg mit der Last stellte sich als echten Kraftakt heraus, die junge Frau fühlte den Wassermangel und auch, dass sie nicht genug gegessen hatte. Was angesichts des schlimmen Geschehens und ihrer Flucht nicht weiter verwunderlich war. Hätte ich mich besser stellen sollen? fragte sie sich zum wenigstens hundertsten Male – und die Antwort war dieselbe – Nein. Der Kriegsherr hätte sie, Ordensrekrutin hin oder her, zu Tode foltern oder verbrennen lassen. Lebend, wohlgemerkt. Was zählte ihr Wort, wenn die Abkömmlinge von Adel gegen sie standen? Die Ungerechtigkeit dessen zerrte an ihr, hatte sie doch solcherlei Dinge für undenkbar gehalten.

      Schweigsam legte sie die geeigneten Äste, dick und einigermaßen gerade, an dem Bein des Gestraften an. Da es kein offener Bruch war, musste sie ihm nicht das Hosenbein aufschneiden – wofür sie, angesichts des fraglos schrecklichen Anblicks – dankbar war. „Das wird weh tun“, sagte sie warnend. Sie wusste es, denn sie hatte dies schon einige Male bei verwundeten Kameraden oder sogar einmal bei einem ihrer Ausbilder gemacht. Zwar als Kriegerin trainiert, hatte man alle weiblichen Rekrutinnen des Ordens auch zu Heilerinnen ausgebildet. Der Gestrafte setzte das spaßfreie Grinsen auf und meinte: “Solange es hilft.“ Sie zog den Gürtel um Bein und Äste fest, dann einen von zwei Gurten, den sie von ihrer Rückentasche herausgezogen hatte. Der Gestrafte zog scharf die Luft ein, die junge Frau konnte seine Zähne knirschen hören. Sie verschnürte die beiden Bänder, nachdem sie geprüft hatte, ob das Bein gerade lag. Dann ließ sie sich, völlig erschöpft zu Boden sinken, lehnte sich, dem Gestraften gegenüber an den Felsbrocken.

      Eine Weile hörte sie nur ihren eigenen Atem und den des Gestraften. „Warum hilfst du mir?“ Die Frage kam so plötzlich, dass die junge Frau unwillkürlich aufblickte. „Was…meinst du? Du bist verletzt…“ „Nein, das meinte ich nicht“, sagte der Gestrafte hart. „Weshalb hilfst DU mir?“ Nun erst verstand sie. Naserümpfend hob sie die Schultern. „Wäre es dir lieber gewesen, von Hunderatten verspeist zu werden?“ „Glatthäute helfen unsereins nicht. Ihr habt uns gerne als Söldner oder Jäger…aber ansonsten lasst ihr uns verrecken“, presste der Gestrafte hervor. Die junge Frau schnappte nach Luft ob seiner Undankbarkeit. „Schön, das nächste Mal darfst du elend zugrunde gehen, wenn du das vorziehst. Seid ihr Gestraften alle so dämlich, oder bist du eine schlaue Ausnahme?“ Nun wurde aus der abweisenden Miene des Gestraften Hass. „Ihr…dreckigen Glatthäute, oder Menschen, wie ihr euch noch nennt, aber es längst nicht mehr seid. Meine Frau und meine kleine Tochter habt ihr verhungern lassen, habt sie aufs Furchtbarste verenden lassen, direkt vor den Toren eurer Stadt. Gelacht haben eure Stadtwachen, als sie schwächer wurden, als sie im Schatten der Mauer elendig starben!“ Er hatte zuletzt geschrien, mit heiserer Stimme. Die junge Frau starrte ihn ungläubig an. Das, was er da gerade erzählt hatte, war zu grausig, um sich schnell den Weg in ihr Bewusstsein zu bahnen. Sie sah den unsäglichen Schmerz in den Augen des Gestraften – und konnte seinem Blick nicht mehr standhalten. „Welche…Stadt?“, fragte sie. Der Gestrafte lachte voller Bitterkeit. „Eternal Flame. Im Angesicht eurer…großartigen Kirche, eures Reichtums ließt ihr meine Familie sterben. Nur einer, ein Mensch, hätte Mitleid haben müssen. Nur…einer!“, flüsterte er nun fast.

      Das, was sie da gehört hatte, konnte die junge Frau kaum glauben. Ihr Leben hatte sie gerade jener Kirche gewidmet, es ihr geweiht – und nun? Jetzt war sie auf der Flucht, weil die Kirche alles von ihr verlangt hatte – aber nicht bereit war, sie im Gegenzug zu beschützen. Und als sie schon gedacht hatte, es könne kaum noch schlimmer kommen, erfuhr sie von etwas, das sie für undenkbar gehalten hatte. Der Gestrafte log nicht, das wusste sie einfach. Weder hätte es Sinn ergeben, wenn er ihr eine solche Lügengeschichte erzählt hätte, noch logen seine Augen. „Ich mache dir ein Feuer, dann…muss ich weiter“, sagte sie, ohne auf das einzugehen, was der Verletzte ihr geschildert hatte. Der nickte nur, starrte vor sich hin.

      Die junge Frau zündete ein Feuer mit den Brennsteinen an, was bei dem trockenen Holz kein Kunststück darstellte. „Hast du Waffen?“, fragte sie, was der Gestrafte nach einem kurzen, düsteren Blick mit einem Kopfschütteln beantwortete. „Die beiden Hunderatten habe ich mit meiner Axt getötet, dann ging sie zu Bruch. Ausgerechnet in dem Augenblick. Mein Ecar trägt alle meine Waffen, er verfolgte den Rest der Ratten, als ich hier heruntergestürzt war. Ich denke, er wird bald zurückkommen“, meinte er tonlos. Nach einigen Momenten Zögern zog das Mädchen einen Dolch und hielt ihn dem Gestraften hin. „Für alle Fälle“, sagte sie leise, wandte sich dann ab und ging.

      Sie hätte später nicht mehr sagen können, warum sie es tat. Ob es die Erschöpfung war, die sie sensibler werden ließ, oder echtes Mitleid mit diesem anscheinend Gebrochenen, den sie hier zurücklassen musste, weil ihr keine Wahl blieb. Jedenfalls blieb sie stehen, drehte sich noch einmal zu dem Gestraften um. „Viel Glück…möge dein Gott…oder an was du glaubst, dir helfen. Und…es tut mir leid um deine Familie.“ Sie konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. „Ich weiß, es sind nur Worte, sie ändern nichts mehr an dem, was geschehen ist. Aber…ich schwöre, ich hätte ihnen…etwas zu essen gegeben.“ Ohne zu sehen, ob der Gestrafte sie spöttisch anblickte oder nur hasserfüllt, ging sie weiter. Es war eigentümlich, aber obwohl sie keine Dankbarkeit erfahren hatte, dazu Zeit und Kraft hatte aufwenden müssen, wusste sie genau: Ich würde genau dasselbe wieder tun. Weil es etwas Gutes war.

      Langsam wurde es dunkel, das Purpur der Sonne verblasste, machte dem dunklen Azur Platz, das schon


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